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Archiv-Artikel

Mit „Behinderten“ lernt man besser

Die Hamburger Bugenhagen-Schule zeigt, dass eine „Schule für alle“ möglich ist. Die evangelische Schule integriert so genannte behinderte Schüler – und schneidet bei Leistungstests besser als Normalschulen ab. Zwei Lehrer und ein Heilerzieher versuchen die Schüler einer Klasse individuell zu betreuen

„Das ist die Chance, die wir Kindern geben wollen: sich aus ihren eigenen Kräften allein mit den Dingen zu beschäftigen“

AUS HAMBURG ANNE-EV USTORF

Tim sitzt über sein Matheheft gebeugt. Er rechnet. Vom Trubel lässt er sich nicht ablenken, da mögen seine Kumpels Bennett und Marvin noch so oft an ihm vorbeiflitzen. Dabei ist der siebenjährige Tim geradezu prädestiniert für Ablenkungen aller Art, denn er ist ein ADS-Kind. Er leidet am „Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom“. Ruhig zu sein fällt ihm viel schwerer als anderen Kindern.

Ursprünglich besuchte Tim eine spezielle Förderschule, eine Sonderschule für Lernbehinderte. Nun geht er in die zweite Klasse der Bugenhagen-Schule in Hamburg – trotz ADS. Die freie evangelische Schule ist eine normale Schule mit einem besonderen pädagogischen Konzept. Gleich drei Schulzweige sind unter dem Dach der Ganztagsschule im Stadtteil Ohlsdorf vereint: Eine Integrations-Grundschule, eine Förderschule für die Klassen 1–10 und eine Integrations-Gesamtschule für die Klassen 5–10.

„Bei unserer unterschiedlichen Schülerschaft müssen wir sehr stark individualisiert arbeiten“, sagt Schulleiter Hartmut Wahl. „Und wir setzen auf kleine Lerngruppen, je nachdem, welche Art der Behinderung ein Kind hat.“ Ein Schüler wie Tim profitiert auf der Integrations-Grundschule nicht nur von den kleinen Klassen – maximal 22 Kinder sind in einer Klasse, davon vier mit besonderem Förderbedarf –, sondern vom Konzept des „offenen Unterrichts“.

In den Worten vom Tims Klassenlehrerin Anja Messerschmidt funktioniert das so: „Nicht alle zur gleichen Zeit das Gleiche machen lassen, sondern die Kinder auf ihrem individuellen Lernstand zu fördern und zu fordern“. Der Stundenplan in der Bugenhagen-Grundschule ist im Gegensatz zu staatlichen Schulen nicht nach einzelnen Fächern durchstrukturiert, sondern nach Blöcken, die „Wochenplan“ oder „Freiarbeit“ heißen.

Vor jeder Schulwoche erstellen die Pädagogen für jeden Schüler einen individuellen Plan darüber, was das Kind in der kommenden Woche besonders üben soll. In den „Freiarbeit“-Blöcken hingegen entscheiden die Kinder selbst, was sie lernen möchten. Eine typische Unterrichtsstunde kann so aussehen: Einige Kinder rechnen, einige lesen, wieder andere üben schreiben, malen oder tippen Geschichten in den Computer.

Das Freiarbeiten funktioniert selbst für ein Kind wie Tim, denn Konkurrenzdruck und Leistungsvergleiche fallen durch individuelle Aufgaben weg. Tim hat so mehr Erfolgserlebnisse beim Lernen. „Bei ihm gucken wir nicht nur, was jetzt in seinem Wochenplan ansteht, sondern auch, was ihn motiviert“, berichtet Anja Messerschmidt. „Man muss aufpassen, dass man nicht das Gefühl vermittelt: ‚Es gibt nur diesen einen Weg.’ Wenn es nur die Möglichkeit gibt, im Mathebuch auf Seite 231 die Übung a zu machen, es dem Kind aus irgendwelchen Gründen aber nicht möglich ist, dann entsteht ein wahnsinniger Druck.“

Trotzdem muss Tims Lehrerin ihn manchmal verstärkt anleiten, aber oft arbeitet er auch ganz selbstständig. „Das ist eben die Chance, die wir diesen Kindern zu geben versuchen: sich aus ihren eigenen Kräften allein mit den Dingen zu beschäftigen.“

Der „offene Unterricht“ der Bugenhagen-Schule erfordert allerdings hohen Personaleinsatz. Zwei Lehrer und ein Heilerzieher sind für jede Grundschulklasse zuständig. Mindestens zwei von ihnen sind während jeder Stunde anwesend, um den Kindern bei ihrer Arbeit zu helfen.

Die so genannten I-Kinder (Integrationskinder) und die Regelkinder scheinen vom Unterricht angetan zu sein. „Sophie geht super gern zur Schule und ist richtig glücklich dort“, erzählt Nicole Fandré über ihre Tochter. Sophie besucht als Regelkind die zweite Klasse. „Die Kinder können in ihrem eigenen Tempo lernen, wo gibt es das sonst?“ Welche Kinder in Sophies Klasse die Integrationskinder sind, weiß Nicole Fandré nicht: „Ein Junge hatte eine Gehbehinderung, bei dem war es offensichtlich. Die anderen drei sind mir nicht aufgefallen.“

Die Störungen und Behinderungen der „I-Kinder“ sind unterschiedlich. Die Palette reicht von Verhaltensstörungen und Sinnesschädigungen über schwerwiegendere körperliche und geistige Behinderungen. Auch Down-Syndrom-Kinder sind darunter.

Im Lernen mit assistenzbedürftigen Menschen hat die nach Luthers Beichtvater Johannes Bugenhagen benannte Schule lange Erfahrung. 1867 wurde sie gegründet – als Heimsonderschule für behinderte Kinder. Um einen Grundschulzweig ausschließlich mit Integrationsklassen wurde sie 1989 erweitert. Zwei Jahre später wurde sie in eine „Schule für Kinder mit besonderem Förderbedarf“ umbenannt. 1995 erfolgte die Errichtung der Integrations-Gesamtschule – damit Grundschulkinder ihre Bildungslaufbahn vollenden können. Inzwischen besuchen über 500 Kinder und Jugendliche die drei Schulen in Ohlsdorf. Staatliche anerkannt ist die Hamburger Bugenhagen-Schule erst seit zwei Jahren.

Der „offene Unterricht“ ist allerdings längst nicht für alle Schüler mit Lernbehinderungen geeignet. „Nicht alle Kinder vertragen eine große Klassengemeinschaft oder eine sehr freie Art des Unterrichts“, sagt Schulleiter Wahl, „Kinder mit sehr massiven Wahrnehmungsstörungen oder Mehrfachbehinderungen kommen in normalen Grundschulklassen nicht zurecht.“ In der Förderschule gibt es daher nur elf Schüler pro Klasse – um das Störpotenzial untereinander möglichst gering zu halten.

Gearbeitet wird hauptsächlich mit Montessori-Materialien. Sie sollen den Kindern dabei helfen, im Spiel erst mal eigene Lernstrukturen zu entwickeln. Um sicherzustellen, dass diese Kinder ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten entsprechend beschult werden, ist ein speziell ausgebildeter Sonderpädagoge angestellt, der regelmäßig psychologische und leistungsdiagnostische Testverfahren mit den Schülern durchführt.

Das pädagogische Konzept der Bugenhagen-Schule ähnelt weniger dem deutschen als dem finnischen Schulsystem, das vor zwei Jahren beim Pisa-Test im internationalen Vergleich hervorragend abschloss. Die deutsche Schule hingegen erwies sich als mangelhaft: Lediglich Platz 21 erreichten die deutschen Schüler auf der internationalen Skala in den Kernkompetenzen Lesen und Rechnen, weit hinter allen anderen westlichen Industriestaaten. Im Falle Deutschlands zeigte sich, dass das Beharren auf homogenen Lerngruppen, innerhalb deren Schüler im Gleichschritt durch einen gemeinsamen Lehrplan geschleust werden, nicht zu den gewünschten Erfolgen führte. Auch die „Leistungsbewertung“ von Kindern durch Zeugnisse ab der dritten Klasse produzierte nicht automatisch bessere Ergebnisse.

An der Bugenhagen-Schule hingegen können Schüler, wie in Finnland, die Klassen eins bis zehn im selben Klassenverband durchlaufen, unabhängig von ihrer Leistungsstärke. Zeugnisse mit Noten gibt es, wie in Finnland, erst ab der 8. Klasse. Und statt Frontalunterricht steht projektbezogenes Lernen auf dem Lehrplan – damit Schüler lernen, sich ihre Aufgabengebiete möglichst eigenständig zu erarbeiten. „Vom Konzept her haben wir in unserer Schule eigentlich versucht, das umzusetzen, was die Schulen in Finnland und Skandinavien so erfolgreich gemacht hat“, sagt Schulleiter Wahl.

Dazu gehört auch, dass die Bugenhagen-Schule eine Ganztagsschule ist: Der Schultag geht von 8 bis 15.30 Uhr, zwischendurch essen die Schüler gemeinsam mit ihren Lehrern zu Mittag. Als Grund für den Ganztag führt Wahl die Entlastung der Eltern an: „Wenn eine Schulpflicht besteht, kann der Staat nicht erwarten, dass die Eltern zu Hause in Form von Hausaufgabenbetreuung und ähnlichem Hilfslehrer spielen. Alles, was mit der Schule zu tun hat, wird hier im Verlauf eines Schultags abgewickelt – auch die Hausaufgaben“.

Leistungsmäßig liegt die Bugenhagen-Schule etwas über dem staatlichen Gesamtschulen-Durchschnitt, mit Spitzen in einigen Bereichen wie Lesen oder Mathe. Besonders positive Rückmeldungen bekommen die Lehrkräfte häufig von Eltern, deren Kinder vorher auf den staatlichen Schulen Probleme hatten: „Die Kinder sind in der Regel demotiviert, denen ist die Freude am Lernen komplett vergangen. Für diese Kinder ist es dann was ganz Neues, zu merken, dass die Schule sogar Spaß machen kann“, sagt der stellvertretende Schulleiter Oliver Bollmann.

Die Bugenhagen-Schule gilt als attraktive Schule. Allein für das vergangene Schuljahr hatten für die Grundschule 161 Anmeldungen vorgelegen – aufgenommen werden konnten aber nur 66 Kinder. Das monatliche Schulgeld von 150 Euro inklusive Mittagessen scheint die wenigsten Eltern abzuschrecken: „Das zahle ich gern, schließlich ist mein Kind hier den ganzen Tag gut aufgehoben“, sagt Nicole Fandré, „man hat als berufstätige Mutter nicht das Gefühl, sein Kind in einer Aufbewahrungsanstalt abzuladen.“

Trotz des Schulgelds will die Bugenhagen-Schule aber nicht elitär sein. Finanziell schwache Familien erhalten einen Rabatt oder bekommen das Schulgeld gar erlassen. „Wir würden niemals ein Kind nicht aufnehmen, nur weil die Eltern kein Geld haben“, meint Konrektor Oliver Bollmann. „Das passt bei uns einfach nicht zusammen.“