: „Der Erste Weltkrieg wird unterschätzt“, sagt Brigitte Hamann
Wer den Irakkrieg verstehen will, muss das Europa von 1914 betrachten. Kriegspropaganda wirkt heute immer noch
taz: Seit Wochen erinnern die Medien an den Ersten Weltkrieg, der heute vor 90 Jahren mit dem deutschen Einmarsch in Belgien begann. Was fasziniert an diesem Krieg?
Brigitte Hamann: Das Interesse war überfällig. Der Aufstieg Hitlers ist ohne den Ersten Weltkrieg nicht zu erklären. Ich habe mich schon lange gefragt: Warum versteht man nicht, dass der Erste Weltkrieg die Ursünde des 20. Jahrhunderts ist? Die Grundstruktur der modernen Kriege kann man am Ersten Weltkrieg sehr viel besser erkennen als etwa am Zweiten Weltkrieg.
Weil er noch ein vergleichsweise „normaler“ Krieg war?
Ja, da war nicht einfach nur ein Verbrecher an der Regierung. Das war noch ein einigermaßen solides System, das erst durch den Krieg auf einmal zusammengebrochen ist. Stellen Sie sich vor: Ein prosperierendes Land wie das wilhelminische Deutschland geht in diesen Krieg mit der vollen Überzeugung, dass es die sicherste Strategie der Welt hat. Am Ende steht der Verlust aller Autoritäten und das Ende der alten Welt.
Beruht das neue Interesse also auf dem Irakkrieg – eine Großmacht zieht siegesgewiss ins Feld und endet im Chaos?
Der Vergleich liegt in mancher Beziehung auf der Hand. Denken Sie nur an die grinsenden Österreicher, die 1916 die Leiche des italienischen Offiziers Cesare Battisti in die Kamera hielten. Die Propaganda spielt eine unglaublich große Rolle. Sie ist im Ersten Weltkrieg erstmals in großem Stil eingesetzt worden. Die Leute waren damals so naiv, dass sie noch an alles Geschriebene geglaubt haben.
Heute ist das anders?
Von wegen! Die Methoden sind ja auch raffinierter geworden.
Bei der Propaganda hat die Politik gelernt. Gilt das auch für Fragen von Krieg und Frieden?
Da bin ich nicht so sicher. Wenn man sich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt, lernt man viel über die Schwäche und den Leichtsinn von Politikern. Diese Sicherheit, mit der man auch heute noch in Kriege geht und denkt: Es kann uns nichts passieren, wir haben die mächtigste Militärmacht überhaupt. Damals wurde der klitzekleine Krieg gegen Serbien innerhalb von drei Tagen zum Weltkrieg. Dieses Risiko muss sich heute jeder Staatsmann überlegen, bevor er überhaupt einen Krieg anfängt.
Damals hatte es in Mitteleuropa seit 43 Jahren keinen Krieg mehr gegeben. Fühlten sich die Menschen zu sicher?
In Deutschland war es so. Hinzu kam: Das Deutsche Kaiserreich war durch den Krieg von 1870/71 entstanden. Man glaubte an die Theorie, dass der Krieg der Vater der Nationen ist.
Zeigen die Proteste gegen den Irakkrieg, dass wir heute gegen Kriegsgläubigkeit immun sind?
Die großen Proteste kamen erst, als die Sache schief zu laufen begann. Das ist ja keine Kunst. Am Anfang haben viele gesagt: Der Krieg in Afghanistan war nicht so schlecht, vorher haben wir auf dem Balkan eingegriffen. Also muss man vielleicht auch im Irak einschreiten.
Schon die Einsätze in Afghanistan und dem Balkan waren falsch?
Wenn es so leicht wäre! Das ist ja gerade das Problem: Wie soll ein normaler Bürger wissen, was Propaganda ist und wo es zum Krieg wirklich keine Alternative gibt? Dass die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg eingreifen mussten, steht zum Beispiel außer Frage.
Vor über 40 Jahren erregte der Historiker Fritz Fischer Aufsehen mit der These, Deutschland trage die Hauptschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Wird das Thema jetzt neu aufgerollt?
Die Hauptfrage ist heute nicht mehr: Wer hat Schuld? Die Frage ist: Wie konnte es passieren? Was müssen wir wissen, damit wir in ähnlichen Situationen vorsichtiger sein können? Diese Fragen sind beim Ersten Weltkrieg nicht so eindeutig zu lösen wie beim Zweiten. Da spielt das Ineinandergreifen der Bündnisse eine Rolle, aber auch viel Dummheit, Nachlässigkeit, Frivolität, übersteigertes Selbstbewusstsein.
Soll der Erste Weltkrieg also Bestandteil einer gesamteuropäischen Erinnerungskultur werden?
Solch eine europäische Gemeinsamkeit bildet sich längst heraus. Auf allen Seiten hat man den Ersten Weltkrieg aufgearbeitet. Jetzt sagt man sich: Wir wollen gemeinsam dagegen angehen, dass sich so etwas wiederholt. In der Zwischenkriegszeit war das anders. Da wurden die alten Wunden wieder und wieder aufgerissen und mit dem Ersten Weltkrieg Propaganda für den nächsten gemacht.
Der Bundeskanzler hat in den vergangen Wochen auf drei großen Gedenkfeiern gesprochen – zum D-Day, zum 20. Juli und zum Warschauer Aufstand. Hätte er sich auch zum Ersten Weltkrieg äußern sollen?
Dass die Verbrechen im Zweiten Weltkrieg ganz andere Dimensionen hatten, ist doch jedem Menschen klar. Da gibt es keine Konkurrenz. Das darf aber nicht dazu führen, dass man alles andere einfach unter den Tisch wischt. Man muss jetzt daran gehen, die historische Verbindung vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg noch deutlicher herauszustellen – aber ohne zu relativieren.
Die Angst vor Relativierungen hat die historische Auseinandersetzung behindert?
Das ist ein bisschen sehr deutsch. Es ehrt die Deutschen zwar, aber in der Wissenschaft darf man nicht an Themen vorbeigehen, nur weil sie politisch gerade nicht opportun sind.
INTERVIEW: RALPH BOLLMANN