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Archiv-Artikel

„Dort fördern, wo Leichtathletik lebendig ist“

Gespräch mit Helmut Digel, dem ehemaligen Präsidenten des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), über das Abschneiden bei den Weltmeisterschaften in Paris, die Perspektiven für die Zukunft und notwendige Strukturreformen

taz: Herr Prof. Digel, sind Sie froh, nicht mehr Präsident des DLV zu sein?

Helmut Digel: Ach wissen Sie, das war schon zu meiner Amtszeit so: Wenn die Mannschaft gut ist und Medaillen gewonnen werden, dann gehört der Erfolg dem Athleten, und wenn die Mannschaft schlecht ist, dann wird das den Funktionären angelastet. Damit muss man leben.

In Paris aber steht der DLV vor dem schlechtesten Abschneiden seit 1987.

Die momentane Situation war vor dem Hintergrund der Entwicklung der Welt-Leichtathletik absehbar. Der DLV hat sehr stark auf die Vorleistung der DDR aufgebaut. Vor der Wiedervereinigung war der Westen, also die alte BRD, ja auch nicht sehr erfolgreich. Und jetzt befindet man sich wieder genau an dem Punkt, an dem man war, bevor die Vereinigung stattfand.

Das heißt, man hat den Fehler gemacht, das DDR-Sporterbe nicht gepflegt zu haben?

Das glaube ich nicht. Das Problem war, dass man zu lange auf die Leistungen der Athleten, die noch in der DDR groß geworden sind, gesetzt hat und gleichzeitig die jungen Talente, die in der deutschen Leichtathletik vorhanden sind, auf ihrem schwierigen Weg, den sie zwischen 18 und 23 gehen müssen, nicht konsequent genug begleitet hat. Wir haben die besten Ergebnisse bei Jugend- und Junioren-Welt- und -Europameisterschaften, aber wir schaffen es nicht, diese Athleten bei den Senioren in die Weltspitze zu führen.

Warum ist dem so?

Zum einen fehlt es an ausreichender Motivation, das kann man hier in Paris sehr deutlich erkennen. Es ist für mich absolut überraschend, dass nur sehr wenige Athleten sich zum Saisonhöhepunkt hin steigern können. Wichtiger scheint mir allerdings, dass wir die einzelnen Disziplinen einer Analyse unterziehen und uns fragen: Wie hat sich in der Welt das Leistungsniveau verändert und wo können wir überhaupt noch mit der Weltklasse konkurrieren?

Wie würden Sie die Fragen beantworten?

Unter den Nationen, die in Paris die Finals erreichen, befinden sich immer mehr kleinere Nationen, auch Entwicklungsländer, die sich auf wenige Disziplinen konzentrieren und dort auch in Zukunft Erfolge haben werden. Für uns bedeutet das, dass wir nicht mehr diese Medaillenausbeute haben werden, die wir einmal hatten, ganz einfach, weil der Verteiler größer geworden ist. Man muss sich damit begnügen, dass auch Deutschland als Leichtathletiknation nicht mehr als fünf bis sechs Medaillen gewinnen kann.

Fünf bis sechs Medaillen gingen ja noch. In Paris werden es nicht mehr als drei oder vier.

Da ist auch Pech dabei, das muss man unserer Mannschaft zugestehen.

Lars Riedel hat gesagt, er wisse nicht, ob die deutsche Leichtathletik hier in Paris eine Durststrecke erlebe oder eine Strukturkrise.

Ich sehe das Problem darin, dass wir junge Athleten im Alter von 18 bis 24 fast nur noch über die Bundeswehr fördern können, um sie in die Weltspitze zu führen. Alle anderen Strukturen sind nicht effizient: Die Universitäten sind keine Träger des Hochleistungssports, und die Wirtschaftsunternehmen sind es auch nicht. Diese beiden Säulen fehlen uns – und deshalb verlieren wir in dieser Phase so viele Athleten.

Wie schafft man Abhilfe?

Indem man für stabile Strukturen sorgt – und sich um die Absicherung jener Athleten kümmert, die sich mit Haut und Haaren der Leichtathletik widmen.

Sie selbst haben bereits eine härtere zentrale Steuerung angemahnt.

Wir müssen dafür sorgen, dass junge Menschen in der Lage sind, sechsmal in der Woche mehrstündig trainieren zu können. Solche Bedingungen zu schaffen, ist die entscheidende Aufgabe der deutschen Sportpolitik. Die Bemühungen, die Universitäten einzubinden, wie das in anderen Ländern der Fall ist, zum Beispiel in den USA oder Australien, sind zwar auch bei uns vorhanden, aber man kann nicht erkennen, dass wir den Athleten Bedingungen gewähren, dass sie gleichzeitig studieren und erfolgreich Hochleistungssport betreiben können.

Dieter Baumann hat kritisiert, dass die deutsche Leichtathletik abgekommen sei von der Nesterpflege. Stimmen Sie dem zu?

Auch ich bin der Meinung, dass wir die Beziehung zwischen Heimtrainer und Athlet stärken müssen. Und wir müssen im Gegenzug überlegen, ob wir die großen Verwaltungsapparate noch benötigen. Dazu gehört auch, dass man die Bundestrainerstruktur überdenkt.

Soll heißen?

Es wird immer hauptamtliche Manager geben müssen, die für die Strukturen der Basis verantwortlich sind. Wenn man erfolgreich sein will, muss jemand den Weltsport beobachten, muss trainingswissenschaftliche Hilfestellungen geben und die medizinischen Strukturen sowie die Ernährungsberatung absichern. Dazu braucht man zentrale Strukturen. Aber es gehört jede einzelne Stelle der Prüfung unterzogen, ob sie eine Dienstleistung erbringt, die unten dem Duo Heimtrainer/Athlet zugute kommt. Dieses Duo müssen wir stärken, und meiner Meinung nach gehört dazu auch, dass wir den Heimtrainer für Erfolge, die sein Athlet erzielt, finanziell entlohnen. Wir müssen die Leichtathletik dort fördern, wo sie noch lebendig ist – an der Basis.

Welche Sofortmaßnahmen würden Sie einleiten?

Man sollte auf jeden Fall vermeiden, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen. Es geht jetzt vielmehr darum, zu Hause eine Analyse vorzunehmen und zu fragen: Was ist notwendig an äußerer und innerer Reform, damit wir die Position, die wir uns vornehmen, auch erreichen können.

Als da wäre?

Für mich ist es wichtig, dass man begreift, dass in einer Situation, in der andere Länder nicht mehr 44 Disziplinen fördern, sondern sich einige wenige herauspicken, es notwendig ist, ebenfalls Schwerpunkte zu setzen. Ich würde allerdings nicht empfehlen, Disziplinen ganz aufzugeben, nur weil man punktuell keinen Erfolg hat.

Sondern?

Es geht darum, zu schauen: Mit welchem Athlet stehe ich in welcher Altersklasse in welchem Leistungsgefüge – und wo lohnt es sich, besonders intensiv zu fördern? Wenn wir die Olympischen Spiele 2008 in Peking planen, müssten wir eigentlich heute schon wissen, wer dort die Leistungsträger sein könnten.

DLV-Präsident Clemens Prokop, Ihr Nachfolger, hat bereits angekündigt, dass man bei aller notwendiger Analyse eines nicht aufgeben dürfe, nämlich den Anspruch, eine der führenden Leichtathletiknationen der Welt zu sein. Das klingt in der momentanen Situation etwas absurd.

Wieso denn das? Deutschland wird am Sonntag Platz vier in der Nationenwertung einnehmen. Damit ist man eine der führenden Leichtathletiknationen. Das Problem ist nur, dass man das in Deutschland nicht so sieht. Da herrscht eine völlig falsche Erwartungshaltung – auch bei den Medien, den Sponsoren und sogar im Verband.

Für Sie ist das Abschneiden der Deutschen keine Enttäuschung?

Ich habe, da bin ich ganz ehrlich, zu diesem Zeitpunkt mit fünf Medaillen gerechnet. Für mich war Riedel ganz klar ein Kandidat für die Bronzemedaille, Astrid Kumbernuss habe ich sogar Chancen auf Gold eingeräumt. Und Tim Lobinger hatte ich auch auf der Rechnung.

Dass es nun anders kam, hat DLV-Cheftrainer Bernd Schubert ganz schön ins Fadenkreuz der Kritik gebracht.

Das halte ich für ungerecht. Er ist vielleicht nicht der große Motivator, aber er ist engagiert und fachlich höchst kompetent.

Leider schlägt sich das hier in Paris nicht in Erfolgen nieder. Ein Trainer wird aber immer am Erfolg gemessen.

Und das ist falsch. Für mich haben die Bundestrainer mit Erfolgen nichts zu tun. Der Erfolg gehört immer dem Athleten und dem Trainer, der jeden Tag mit ihm arbeitet. Das heißt aber auch, dass ich dem Bundestrainer kaum den Misserfolg anlasten kann.

Wie lange wird es dauern, bis der DLV wieder ein paar Erfolge mehr feiern kann?

Für Athen wird’s sehr, sehr schwer.

INTERVIEW: FRANK KETTERER