: Neue Strategien erproben
Manchmal wirkt Urlaub wie eine Gestalttherapie – zum Beispiel dann, wenn man sich erfolgreich gegen penetrante Straßenhändler wehrt. Die Berliner Psychologin Bettina Graf kennt den Grund
von MONIKA WIMMER
Lange gab es keinen so schönen Sommer in Deutschland wie dieses Jahr. Und dennoch plündern wir frohen Mutes unsere Ersparnisse, stehen stundenlang im Stau oder lassen uns den Schlaf vom Jetlag rauben. Und das alles nur, um für ein paar Wochen pauschal nach Palma de Mallorca zu fliegen, auf einem Kamel durch die Sahara zu reiten oder unsere Zelte auf einem idyllischen Campingplatz an der Algarve aufzuschlagen. Drei von vier Deutschen packen alljährlich ihre Koffer, um zu verreisen. Doch was zieht sie in die Ferne?
Die Berliner Psychologin Bettina Graf kennt den Grund. Sie hat kürzlich ihre Dissertation zum Thema „Reisen und seelische Gesundheit“ veröffentlicht. „Im Urlaub kann man ganz neue Fähigkeiten entwickeln“, sagt sie. Zum Beispiel dann, wenn man sich auf Abenteuertour begibt. Wer den Thrill sucht, kann eine Rafting-Tour oder einen Bungee-Sprung buchen. Oder er reist mit schwerem Gepäck auf dem Rücken durch Länder fernab der westlichen Zivilisation – wie zum Beispiel die Rucksackreisenden in Indien, die Bettina Graf für ihre Dissertation befragt hat.
Doch welchen Nutzen haben Abenteuer in der Fremde für die Persönlichkeitsentfaltung? „Die Intuition wird gestärkt“, hat die Berliner Psychologin festgestellt. Der Grund: Wer durch Indien reist, kann sich auf das Regelgerüst, das unser Verhalten hierzulande bestimmt, nicht mehr verlassen. Und auch die Gepflogenheiten des Gastlandes bleiben ihm unverständlich. Was bleibt ihm anderes übrig, als auf sein Bauchgefühl zu vertrauen?
Auch ganz neue Verhaltensweisen können durch Grenzerfahrungen gelernt werden. Der Schüchterne, der seine Einsamkeit inmitten von Menschen einer fremden Kultur nicht mehr erträgt, lernt plötzlich, auf andere Reisende zuzugehen. Wer sich eines penetranten Straßenhändlers nicht mehr anders zu erwehren weiß, begreift auf einmal, dass er mit diplomatischer Höflichkeit nicht weiterkommt.
„Dabei laufen ganz ähnliche Mechanismen ab, wie während einer Gestalttherapie“, sagt Bettina Graf. Der Reisende gerät in eine für ihn neue, beängstigende Situation, der Adrenalinspiegel des Bluts steigt und gleichzeitig der Handlungsbedarf. Da das bisherige Verhaltensrepertoire nicht ausreicht, müssen neue Strategien erprobt werden.
Auch die Veranstalter von Weiterbildungsseminaren für Manager haben diesen Mechanismus für sich entdeckt. Seit den Siebzigerjahren werden deutsche Führungskräfte mitsamt ihrem Team auf mehrtägige Survivaltrips geschickt – zum Beispiel in die unwirtliche Bergwelt der Alpen. Dort müssen sie sich an Felswänden entlanghangeln oder ein Floß bauen, um einen reißenden Strom zu überqueren. Fähigkeiten wie Durchhaltevermögen, Kreativität und Teamfähigkeit sollen so trainiert werden. „Vor allem sollen die Teilnehmer die Erfahrung für sich verbuchen können, dass sie Extremsituationen gewachsen sind“, sagt Rüdiger von der Weth, Professor für angewandte Psychologie an der Fachhochschule Stuttgart. Das stärkt das Selbstvertrauen, Probleme zu lösen – egal ob sie nun an der Felswand oder in der Firma auftreten.
„Allerdings müssen die Survivaltrips anschließend gut aufgearbeitet werden“, meint von der Weth. Wie haben die Kollegen unter extremer Belastung reagiert? Wie gut lief die Kommunikation untereinander? Welche Stärken und Schwächen sind zutage getreten? Und vor allem: Wie können diese Erfahrungen im Firmenalltag genutzt werden? Diese Themen sollten die Teilnehmer mit einem psychologisch geschulten Trainer besprechen.
Was aber passiert, wenn das geplante Erfolgserlebnis ausbleibt? Wenn es die Mannschaft trotz vereinter Kräfte nicht schafft, das Floß fahrtauglich zu machen, oder wenn ein Teilnehmer am Seil über dem Abgrund hängt und es ihm nicht gelingt, die Felswand heraufzuklettern? Sicherlich wird der Bergführer schnell zu Hilfe eilen. Im Kopf bleibt dennoch der Gedanke hängen, man habe versagt. „Im schlimmsten Fall können solche Erlebnisse zu scheinbar unbegründeten Ängsten führen“, meint Rüdiger von der Weth. Man trifft auf einen Kollegen, der auch beim Training dabei war, sieht einen Rucksack oder die Postkarte einer Berglandschaft und gerät in Panik. Der Grund: klassische Konditionierung. „Die Betroffenen verknüpfen diese Reize mit der Gefahrensituation während des Survivaltrainings und reagieren entsprechend“, erläutert Rüdiger von der Weth.
Auch für Rucksackreisende ist der Urlaub nicht automatisch eine seelische Bereicherung. „Manche Reisende sind dem Kulturschock in fernen Ländern nicht gewachsen“, meint Bettina Graf.
„Zu psychischen Belastungen können Reisen auch dann werden, wenn wir sie nicht als Chance für ein Gegenprogramm zum Alltag nutzen“, glaubt die Berliner Psychologin. Wenn wir im Job von Meeting zu Meeting hetzen, werden wir uns beim Cluburlaub mit Rundum-Animation kaum erholen. Und wer schon zu Hause unter seinem Dasein als einsamer Wolf leidet, wird sich an einem menschenleeren Strand erst recht allein fühlen.
Die meisten Reisenden können jedoch noch zu Hause von ihren Reiseerfahrungen zehren. Vielleicht fühlen wir uns entspannter, weil wir mittags Siesta halten – wie im Urlaub. Möglicherweise kann uns unser indisches Bauchgefühl fortan dabei unterstützen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Oder aber wir setzen uns plötzlich besser durch, wenn uns jemand etwas aufdrängen will, an dem wir gar nicht interessiert sind.
„Um möglichst lange von unserem Urlaub zu profitieren, müssen wir uns unsere Erlebnisse immer wieder ins Gedächtnis rufen“, meint Bettina Graf. Zum Beispiel, indem wir immer mal wieder unser Reisetagebuch lesen oder in den Fotoalben blättern, und auch, indem wir anderen davon erzählen, wie die letzte Reise unser Leben verändert hat.