: Russische Schelme
Schneller lesen: Mit sechs brandneuen Autoren wollte das Literarische Colloquium Berlin die Saison starten
Die neue Büchersaison hat begonnen, und wie in jedem Herbst und Frühling gibt es wieder tausende neuer Bücher. Nun könnte man auf diese regelmäßige Reizüberflutung mit Ermüdungserscheinungen reagieren – aber nein, wir wollen uns schön anstrengen. Je mehr Bücher desto besser, lautet der Appell. Also begeben wir uns brav zum Startschuss der Saison zum Literarischen Colloquium Berlin (LCB) an den Wannsee. Zweimal im Jahr sind hier sechs Berliner Autoren eingeladen sind, aus ihren druckfrischen Büchern zu lesen.
Das ist beinahe so, als sei man plötzlich in eine geheime Gesellschaft geraten. Zahlreichen Zuhörer steht die bemühte Spannung ins Gesicht geschrieben. Schließlich sind sie die Ersten, die hier aus neuen Büchern hören. Wenn sie am Montag einen aufgeregten Anruf der befreundeten Buchhändlerin bekommen, der neue Julia Franck sei endlich eingetroffen, können sie gelangweilt erwidern können: „Habe ich mir schon am Wochenende bei der Lesung geholt.“
Nun ist es aber leider so: Zweimal im Jahr sechs brandheiße Berliner Autoren und Autorinnen zu präsentieren, die gerade erst ein supertolles Buch geschrieben haben, ist keine einfache Sache. Julia Franck, die den Abend mit der Lesung ihres neuen Romans „Lagerfeuer“ eröffnete, mochte da gerade noch durchgehen. Interessant, dass eine, die zur ersten Liga des vor einigen Jahren viel beschworenen Fräuleinwunders zählte, nun auch auf den Zug der Vergangenheitsbewältigung aufspringt. Anders aber als vor einem halben Jahr Olaf Müller oder Tanja Dückers, die über den Zweiten Weltkrieg schrieben, geht es nun bei Julia Franck um jüngere und persönlich erlebte Vergangenheit, um die Flucht aus der DDR. 1978 reiste ihre Familie aus und lebte ein Dreivierteljahr lang im beschriebenen Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde. Die ersten Seiten klingen gut. Bücher über die Kindheit in der DDR gibt es ja inzwischen genug, ein Buch, das von einer Kindheit inspiriert wurde, die sich nicht ganz in der DDR und nicht ganz in der BRD abspielte, bislang noch nicht.
Nach Julia Francks Lesung allerdings ging es wirklich bergab im schönen LCB. Da las Sabine Neumann aus ihrer reichlich schematischen Gender-Erzählung „Das Mädchen Franz“, die bereits im Frühjahr erschienen ist. Larissa Boehning erinnert leider in ihrem Auftreten ein wenig an die Protagonistinnen aus ihren soeben erschienenen Erzählungen „Schwalbensommer“: Abgestürzte, aber immer noch allzu satte Kinder der Start-up-Generation, die selbst existenzielle Bedrohungsszenarien nicht aus der Ruhe bringen können.
Zum Schluss aber kam endlich noch eine Lesung, die alles ein wenig rausriss. Michail Jelisarow, ein russischer Autor, der, wie es hieß, gerade nach Berlin gezogen ist, las aus seinem grotesken Schelmenroman „Die Nägel“, einem Buch über zwei körperlich behinderte Findelkinder, die in einem Heim für geistig behinderte Kinder landen. Danach schaffte es Michail Jelisarow, die etwas dröge Atmosphäre aufzumischen und auch die allzu braven Moderatoren endlich mal ein bisschen auflaufen zu lassen. Auf die Frage, ob bei seinem Schreiben Gogol oder Bulgakow eine Rolle spielen würden, sagte Jelisarow: „Eigentlich nicht. Wenn ich immer über Gogol und Bulgakow nachdenken müsste, hätte ich keine Zeit mehr zum Schreiben.“
Dann erzählte er noch eine lustige Anekdote: Um die 20.000 Bücher habe er bisher in Russland verkauft. Wenn er nun an einer x-beliebigen russischen Haustür klingeln würde, dann sei die Wahrscheinlichkeit nicht gering, dass man ihm, weil man ihn kenne, 50 Gramm Wodka anbieten würde. 50 Gramm mal 20.000, das sei doch was, erzählt er. Keine schlechte Rolle, die er da hat, der Schriftsteller in Russland, denkt man kurz. Und fragt sich am Ende auch, ob das Publikum, das an diesem Abend im LCB erschienen ist, überhaupt Wodka im Haus hätte.
SUSANNE MESSMER