: berliner szenen Am Winterfeldtplatz
Von 9 bis 10 Uhr
Ein Zeichen! Die Tür der St.-Matthias-Kirche wird direkt vor meiner Nase zugeschlossen. Der Gottesdienst war um 8. Jetzt, eine Stunde später, ist alles schon vorbei. Auch gut. Dann eben nicht. Wir werden uns wohl nie verstehen, ich und die Religion.
Ich setze mich dann noch eine halbe Stunde auf die Bank vor dem Wohnhaus „Kardinal von Galen“ der Caritas. Ein ganzer Block gehört hier ja der katholischen Kirche. Mit seinen kleinen Fenstern sieht das Wohnhaus wie eine Trutzburg aus. Die großen Fenster im Erdgeschoss sind durch hölzerne Querbalken unterteilt, eine trutschige Kakteensammlung steht auf der Fensterbank. Alle Vorhänge sind zugezogen. Das ganze Haus wirkt, als wolle es sich gegen die Offenheit des Platzes stemmen. Immerhin sind die Balkone hübsch hergerichtet, mit Blumen, Sonnenschirmen und Mallorca-Schnickschnack. Aber wo sind die Hausbewohner? Womöglich erholen sie sich gerade auf ihren Zimmern vom Gottesdienst. Nein, da kommt dann doch noch eine grau gekleidete Dame. Eine Viertelstunde steht sie an der Goltzstraße, dann geht sie wieder ins Gebäude. Man muss nicht alle Verhaltensweisen seiner Mitmenschen verstehen wollen.
Was das irdische Treiben betrifft, nehme ich mir zu dieser Stunde eine Winterfeldtplatzkrise. Die Cafés füllen sich; alles nippt Milchkaffee, verscheucht Wespen und blinzelt in die Sonne. Scheiß Kleinstadtleben von Großstadtbewohnern. Was die Stunde dann gerettet hat, waren die drei Hartz-IV-Kandidaten auf der Bank schräg neben dem Zebrastreifen. Gerade als ich an ihnen vorübergehe, sagt einer „erster Arbeitsmarkt“ und alle drei lachen darauf dreckig.
DIRK KNIPPHALS
(10 bis 11 Uhr: kommenden Freitag)