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Archiv-Artikel

Mehr Verantwortung wagen

DIE ANDERE HALBZEITBILANZ (III): Die SPD hat eine fatale Vorliebe fürs Big Government. Nur: ohne Engagement der Bürger lassen sich viele politische Probleme nicht mehr lösen

SPD und Bürger-gesellschaft: Das sind, so scheint es, Welten, die kulturell nichts verbindet

Die Versuche liegen schon eine Weile zurück, mit denen die Regierung versucht hat, so etwas wie Begründung und Perspektive in ihre Politik zu bringen. Das Blair-Schröder-Papier aus dem Jahre 1999, dieses Fallschirmkommando hinter den feindlichen Linien, wurde schneller abgebrochen, als es begonnen hatte. Des Kanzlers Reden und Beiträge zur „zivilen Bürgergesellschaft“ waren gut, aber folgenlos. In beiden Fällen ging es um eine neue Balance zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft; es ging um ein besseres Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten, Freiheit und Verantwortung; und es ging um aktive Bürger und soziales Kapital.

Das ist lange her. Der Regierung ist es nicht gelungen, einen roten Faden in ihre Politik zu weben, der die verschiedenen Teile zusammenhält. Dabei sind die Ideen durchaus vorhanden: in sozialdemokratischen Regierungskonferenzen („Good Governance“); im SPD-Netzwerk um Sigmar Gabriel und die Zeitschrift Berliner Republik; bei politiknahen Sozialwissenschaftlern. Allein es fehlt der politische Wille, sie aufzugreifen und zu einem Ganzen, zu einem politischen Entwurf zu verdichten. Es ist schwer – oder ganz einfach, dafür eine Erklärung zu finden. Nichts wäre ja – rund um die Agenda 2010 – praktischer als eine plausible politische Philosophie, aus der sich beides ableiten lässt: die notwendigen Veränderungen und auch eine sinnvolle Perspektive.

Doch: Die SPD und ihre Regierung sind offensichtlich in zentralen Politikfeldern und repräsentiert in wichtigen Personen (Schröder, Schily, Clement, Müntefering e tutti quanti) nach wie vor eine etatistische Partei, mit einer genetischen Vorliebe für Big Government und Big Business. Und so betrachten sie denn auch die Gesellschaft nach wie vor hierarchisch, von oben nach unten, ausschließlich mit den Augen des Staates, dem für gesellschaftliche Probleme immer und zuerst nur zentralstaatliche Lösungen einfallen. SPD und Bürgergesellschaft: Das sind, so scheint es, Welten, die kulturell nichts verbindet.

Man kann in den politischen Stoff hineingreifen, wo immer man will, stets trifft man auf die gleichen Muster: Bei der Beschäftigungspolitik für Langzeitarbeitslose vertraut man nicht den Kommunen, sondern der Bundesagentur für Arbeit, konstruiert als Ausnahme ein Optionsmodell und wundert sich dann, dass es viel mehr Anklang findet als vom Staat erlaubt. Bei der Integration von Migranten geht es nicht ohne ein Bundesamt für Migration, obwohl doch mit Händen zu greifen ist, dass die Integration vor Ort in der Lebenswelt gelingt oder gar nicht. Von der Bildungsministerin und ihren Versuchen, die Hochschullandschaft zu zentralisieren, ganz zu schweigen. Und so sollte man sich auch nicht wundern, wenn es nach dem Ende der Wehrpflicht und des Zivildienstes ein Bundesamt für Freiwillige oder ein Bundesamt für einen nicht freiwilligen Sozialdienst gibt wie vordem das Bundesamt für den Zivildienst. Noch freilich ist nicht einmal sicher, ob die Millionen, die bisher für den Zivildienst ausgegeben werden, künftig für den Ausbau einer sozialen Infrastruktur für die Zivilgesellschaft verwandt werden.

So stehen die Zeichen für die Bürgergesellschaft, was das Große und Ganze betrifft, eher schlecht im Lande. Im Konkreten und Besonderen sind dagegen durchaus neue Akzente zu beobachten, nicht nur an den Graswurzeln der Demokratie, in den vielen Initiativen und Netzwerken, sondern auch in den staatlichen Behörden und Bürokratien. Im Innen- und Justizministerium lernt man langsam, aber eben doch, dass Staats- und Verwaltungsreform nicht nur mit E-Government, sondern auch mit Zivilgesellschaft etwas zu tun haben. Das Sozialministerium erleichtert den Zugang der Ehrenamtlichen zur gesetzlichen Unfallversicherung. Freiwilligendienste wurden auch auf Sport und Kultur erweitert. Es gibt Versuche, bereits geleistete gemeinnützige Arbeit bei Hartz IV anzuerkennen.

Im zuständigen Familienministerium steht das Thema „bürgerschaftliches Engagement“ eher im Schatten der Familienpolitik, die freilich über lokale „Allianzen für die Familie“ neu und durchaus bürgergesellschaftlich konzipiert wird, und das mit einer beträchtlichen Breitenwirkung: Die verschiedensten gesellschaftlichen Akteure, von den Gewerkschaften über die Industrie- und Handelskammern bis hin zu den Sozialverbänden – und über ein Drittel der Bevölkerung machen bereits mit.

Es ist, mit Unterstützung des Familienministeriums, ein „Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE)“ entstanden, ein Zusammenschluss von rund 140 verbandlichen Akteuren, von dem sich bald zeigen wird, ob es nur eine weitere Säule im Wohlfahrtskorporatismus darstellt oder ob es seinem konzeptionell dynamischen Management um Thomas Olk und Ansgar Klein gelingen wird, neuen Wein aus den alten Schläuchen zu filtrieren. Es gab eine Enquete des Bundestages, die viel Papier verschlungen, aber in Politik und Öffentlichkeit wenig Resonanz gefunden hat. Die Förderpolitik zeigt weiter das alte Bild. Alles in allem haben auch die SPD-geführten Bundesregierungen „das strukturelle Missverhältnis zwischen altem und neuem Ehrenamt zementiert“, wie Thomas Leif, der Mitherausgeber des Forschungsjournals Neue Soziale Bewegungen, bündig und bissig kommentiert.

Multa, non multum: Vielerlei geschieht, aber es wird keine Politik daraus. Es ist nicht gelungen, das Thema aus dem Schatten der „großen“ Politik zu holen. Es geht ja nicht darum, an den zentralstaatlichen Komplex noch einen Erker anzubauen und darauf dann die Fahne mit der Leuchtschrift „Bürgergesellschaft“ flattern zu lassen. Es geht um eine andere soziale Architektur in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.

Des Kanzlers Reden und Beiträge zur „zivilen Bürgergesellschaft“ waren gut, aber folgenlos

Wichtige Politikfelder werden sich in den kommenden Jahren fundamental verändern. Keine der großen Aufgaben der Zeit (Bildung, Beschäftigung, Wachstum, Familie, Gesundheit, Pflege, Inklusion) kann ohne eine stärkere Aktivierung der Kommunen und der Bürger und ohne neue Formen der Vernetzung und des Engagements erfolgreich angegangen werden. Aber mit Ausnahme einiger Städte (München) und Bundesländer (Hessen, Baden-Württemberg) ist eine nachhaltige, konzeptionell angelegte „Engagement-Politik“ nicht einmal in Umrissen zu erkennen. Städte und Gemeinden, die primären Orte der Bürgergesellschaft, liegen weiterhin außerhalb der Sichtweite der Bundesregierung. Dabei müsste es zu ihren und der Länder vornehmsten Aufgaben gehören, den Kommunen die Mittel und Kompetenzen zu geben, damit sie ihre alten und neuen Aufgaben auch tatsächlich erfüllen können.

„Mehr Demokratie wagen“ hat einmal die Fantasie beflügelt und auch die Wirklichkeit verändert. Mehr Bürgergesellschaft wagen, davon sind Sozialdemokraten wie Bundesregierung weit entfernt – und nicht nur sie. Und wo bleiben bei alledem eigentlich Bündnis 90/Die Grünen? WARNFRIED DETTLING