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Archiv-Artikel

Ankaras Hoffnung in Berlin

aus Istanbul JÜRGEN GOTTSCHLICH

Wenn der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan sich heute in Berlin zum Essen mit Gerhard Schröder trifft, kann er sich zumindest einiger warmer Worte sicher sein. Bereits im Vorfeld des Besuchs hatte der Kanzler gegenüber ausländischen Korrespondenten erklärt, dass die Bundesregierung nach wie vor eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU unterstütze und die derzeitige Regierung in Ankara einen „großartigen Job“ mache. Auch Außenminister Fischer hatte bereits vor dem Treffen mit dem türkischen Premier in einem Interview erklärt, es gäbe in der Türkei einen bemerkenswerten Wandel mit dem Ziel, die Türen in Richtung Europa zu öffnen. Dies müsse man honorieren.

Erdogan und seine Mannschaft, die bereits seit Sonntagabend in Berlin weilen, werden diese Beteuerungen befriedigt zur Kenntnis nehmen. Doch die Unsicherheit über das, was die Deutschen von dem türkischen Wunsch einer EU-Mitgliedschaft wirklich halten, wird bleiben.

Nicht nur Kosmetik

In der Türkei geht man im gesamten außenpolitischen Establishment davon aus, dass der Schlüssel zur EU in Berlin liegt. Mit großer Aufmerksamkeit werden deshalb alle Äußerungen deutscher Politiker zum Thema Türkei verfolgt.

Deshalb hat der türkische Ministerpräsident den Zeitpunkt für seine Berlin-Visite sorgfältig ausgesucht. Erst vor knapp einem Monat hat seine Regierung das wichtigste Reformpaket zur Annäherung an die EU durchs Parlament gebracht, und gerade letzte Woche hat Ankara noch einmal deutlich gemacht, dass diese Reformen alles andere als Kosmetik sind. Mit versteinerter Miene musste sich Erdogan die Reden mehrerer Vier-Sterne-Generäle anhören, die allesamt ihren Wechsel in den Ruhestand nutzten, um die Entmachtung des Militärs und die damit verbundenen Gefahren für die Türkei anzuprangern. Dabei wurde noch einmal deutlich, wie tief das Misstrauen der „Hüter des laizistischen Staates“ gegenüber der derzeitigen religiös geprägten Regierung ist. Der scheidende Chef der Luftwaffe, General Cumhur Asparuk, ging Erdogan direkt an und sagte: „Während entwickelte Länder den Weltraum erobern, beschäftigen wir uns immer noch mit der weiblichen Kleiderordnung.“

Doch während früher das Säbelrasseln der Militärs genügte, Regierungen ins Wanken zu bringen, passiert diesmal außer einem Rauschen im Blätterwald der Tageszeitungen nichts. Im November wird das neue Gesetz über die Aufgaben des Nationalen Sicherheitsrates in Kraft treten und die Ära militärisch kontrollierter Regierungen endgültig beenden. Das ist eine enorme Entwicklung, wenn man bedenkt, dass der Mann, der diese stille Revolution durchgesetzt hat, noch vor Jahresfrist dem Knast näher war als dem Stuhl des Ministerpräsidenten.

Noch in der Endphase des Wahlkampfes, den seine Partei für Gerechtigkeit (AKP) dann am 3. November 2002 mit einem überwältigenden Sieg beendete, versuchte das alte Establishment ihn mit allen juristischen Tricks aus dem Verkehr zu ziehen. Erst der Wahlsieg, der der Partei fast zwei Drittel aller Sitze im Parlament bescherte und alle großen, bis dahin im Parlament vertretenen Parteien auf einen Schlag in die außerparlamentarische Opposition beförderte, beendete diese Versuche. Selbst dann brauchte Erdogan noch einmal fünf Monate, bis er über eine Nachwahl selbst ins Parlament einziehen und damit auch formal das Amt als Ministerpräsident übernehmen konnte.

Während man im übrigen Europa noch heftig diskutierte, ob die neue Regierung nun als islamistisch, moderat islamisch oder schlicht als konservativ einzuschätzen ist, machte Tayyip Erdogan vom ersten Tag des Regierungsantritts seiner Partei an klar, dass das wichtigste außenpolitische Ziel der Beginn von Beitrittsgesprächen mit der EU ist. Die Entscheidung auf dem Kopenhagener Gipfel im Dezember 2002, die Türkei noch einmal um zwei Jahre zu vertrösten und erst Ende 2004 – im Lichte des Reformprozesses – Ja oder Nein zu Beitrittsgesprächen zu sagen, war für Erdogan zwar zunächst eine herbe Enttäuschung, hat aber dazu geführt, dass die AKP mit erstaunlicher Konsequenz die gesetzlichen Hürden auf dem Weg in die EU abgeräumt hat.

Folter als Imageschaden

So sind die Vorwürfe, die die CDU/CSU jetzt im Zusammenhang mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts, den Islamisten Metin Kaplan nicht auszuliefern, an die türkische Regierung richtet, völlig unsinnig. Die vom Gericht erhobenen Foltervorwürfe beziehen sich auf 1998. Mittlerweile hat man in Ankara längst erkannt, wie sehr das Image des Folterstaates dem Land schadet, und tut einiges, um Folter wirklich zu unterbinden. Doch auch wenn man per Gesetz die Möglichkeiten der Anklageerhebung gegen Polizeibeamte erleichtert, ist damit nicht gleichzeitig ein neuer Geist in den Apparat eingezogen. Immerhin wurden in den letzten Monaten einige Polizisten wegen Folter an Gefangenen verurteilt, nachdem sich der Prozess über Jahre hingeschleppt hatte.

Weit weniger erfolgreich als bei der Harmonisierung von türkischem und EU-Recht war die Mannschaft von Erdogan bislang bei ihrem innenpolitischen Schwerpunktthema: der Überwindung der Rezession. Sei es wegen des Krieges im Irak, wegen der weltweit schlechten Wirtschaftslage oder aufgrund hausgemachter Fehler – die Hoffnung, dass allein die Aussicht auf eine stabile Regierung die Wirtschaft wieder in Schwung bringen und Investoren aus der Reserve locken würde, hat sich nicht erfüllt. Zwar streiten die Experten um erste Anzeichen einer vorsichtigen Erholung. An der dramatischen Arbeitslosigkeit, unter der auch viele qualifizierte Leute leiden und die deshalb zu einem Substanzverlust auch in der Mittelschicht geführt hat, ändert das bisher nichts. Auch die versprochene Hilfe für die ganz Armen ist die Regierung bislang schuldig geblieben. Stattdessen versucht sie, ganz im Sinne des Weltwährungsfonds, durch den Ausverkauf sämtlichen Staatseigentums, bis hin zu Forsten und Stränden, verzweifelt den gigantischen Schuldenberg abzubauen, den ihre Vorgänger ihr hinterlassen haben.

Weil die materielle Verbesserung für die meisten AKP-Wähler bislang ausblieb, versucht die Erdogan-Truppe ihre Klientel deshalb eher durch kulturelle Aktionen zu befriedigen. Wichtigstes Objekt im Kulturkampf ist, wie die Generäle zu Recht beklagen, das Kopftuch. Das islamische Kopftuch ist in der Türkei ein klares Gesinnungssymbol und wird als solches von den Laizisten heftig bekämpft. Jahrelang versuchten Studentinnen vergeblich, mit einem Kopftuch eine Universität zu betreten: Sie hatten keine Chance. Plötzlich sind es die Frauen der höchsten politischen Entscheidungsträger, die ein Kopftuch tragen. Vor allem Parlamentspräsident Bülent Arinc, protokollarisch der zweite Mann nach dem Staatspräsidenten, mag nicht einsehen, warum er bei offiziellen Anlässen seine Frau zu Hause lassen soll.

Bereits kurz nach Amtsantritt produzierte er den ersten Eklat, als er und seine mit dem Kopftuch bedeckte Frau zur Verabschiedung des Präsidentenehepaares auf dem Flughafen erschienen. Das steigerte sich bei einem Staatsempfang, wo er als Gastgeber angekündigt hatte, seine Frau werde ebenfalls anwesend sein, und damit die gesamte, nicht mit der AKP verbundene Staatsspitze zu einer Absage provozierte.

Die Opposition befürchtet nun, dass die AKP, durch Überläufer im Parlament mittlerweile mit einer verfassungsändernden Mehrheit ausgestattet, es nicht länger bei symbolischen Akten belassen wird, sondern tatsächlich versucht, den Laizismus, einen der Grundpfeiler der Republik, auszuhöhlen. Mittel zum Zweck dazu sei die Bildungspolitik. Mit dem Gestus des Neoliberalen fordert Erdogan schon mal, der Staat solle sich aus der Ausbildung heraushalten und das Schulwesen sollte komplett privatisiert werden. Wohin das zielen könnte, zeigt ein derzeit noch vom Präsidenten blockiertes Gesetz, dass der Regierung erlauben soll, jedes Jahr 10.000 Kindern aus armen Familien den Besuch einer Privatschule zu finanzieren. Das, so glauben Präsident und Opposition, sei nichts anderes als eine versteckte Subvention religiöser Privatschulen, deren Stellung dadurch ausgebaut werden soll. Dieselben Befürchtungen löst eine in Aussicht gestellt Universitätsreform aus. Die staatlichen Universitäten, bislang Bollwerke des Kemalismus, sollen geschwächt und für religiöse Einflüsse geöffnet werden, fürchten die Laizisten.

Kein Gottesstaat in Sicht

Doch bei allem Getöse glaubt kaum jemand, dass die AKP wirklich im Geheimen die Errichtung eines Gottesstaates verfolgt. Auch ein Treffen Erdogans mit Vertretern religiöser Gruppierungen in Berlin, darunter auch Milli Görüs, ist kein Beleg für das Gegenteil. Was dagegen tatsächlich passiert, ist eine gesellschaftliche Akzentverschiebung.

Das Paradoxe an der derzeitigen Situation ist, dass sich in der Türkei durch ein Mehr an Demokratie nun zunächst einmal diejenigen gesellschaftlichen Kräfte hervortun, die sich bislang unterdrückt glaubten. Mit der AKP sind die konservativen, religiösen, zumeist ungebildeten Massen vom Land nach 80 Jahren nun erstmals in der türkischen Republik wirklich angekommen. Tayyip Erdogan will sie nun auch in die EU führen, weil er glaubt, so die gewonnenen Freiheiten am ehesten sichern zu können.