: Schwimmschule der Massenmörder
Nach der fünften Durchsage, den kleinen Sergen betreffend, steht die Wette auf Abholung des verloren gegangenen Sohns inzwischen 1:40. Ein Nachmittag im Kreuzberger Prinzenbad – ganz ohne Auflösung des schwierigen Falls
Die Schwimmmeister im Prinzen- sind höflicher als die im Columbiabad: Ein Bitte hier, ein Danke dort – nicht bei jeder Kleinigkeit wird auf der Stelle entnervt mit dem Rausschmiss des Delinquenten gedroht. Auch der Tonfall bei der Anpreisung verlorener Kinder ist von angenehmer Sachlichkeit geprägt und bei aller Routine überraschend freundlich. Dabei hat noch kaum einer der Badegäste einen mobilen Internetanschluss dabei, und ohne dazugehöriges Bild ist es offenbar nicht immer leicht, das jeweilige Kind an den Mann, die Frau oder die Familie zu bringen.
(Übrigens dachte ich lange Zeit, „wireless Lan“ schreibe sich „wireless line“ und die Aussprache im TV sei nur dem Sächsisch des Michael Ballack geschuldet.)
„Ein kleiner Junge mit dem Namen Sergen sucht seine Eltern. Bitte holen Sie ihn beim Schwimmmeister ab.“ Das war die erste Durchsage. Ein Kind, dass immerhin schon seinen Namen kennt und nicht als „kleiner Nackedei“ verkauft werden muss, ist eigentlich die leichtere Übung. Jetzt sind wir aber gespannt. Fünf Minuten später: „Der kleine Sergen sucht noch immer seine Eltern. Bitte holen Sie ihn schnell beim Schwimmmeister ab.“ Aber die Eltern suchen wohl den kleinen Sergen nicht. Oder Sergen ist nicht sein Name, sondern der seines Onkels oder Spielkameraden, oder gar kein Name, sondern die Bezeichnung für eine Art Blätterteigtäschchen mit Puddingfüllung. Dann wird es schwierig.
„Vermisst denn überhaupt niemand den kleinen Sergen?“ Die Stimme des Schwimmmeisters klingt ungläubig. Neben ihm wundert sich weinend ein Kind, das keiner haben will. Oder es wundert sich nicht, weil es ohnehin nichts anderes kennt als Demütigung und Zurückweisung. In diesem Moment geht vielleicht in der Seele eines kleinen Jungen ein Keim auf, der alles gute schwarz färbt, verdirbt und schließlich wegfrisst. So mag sie aussehen, die harte Wiege der späteren Vergewaltigung, des Amoklaufs oder gar verbrecherischen Eroberungskriegs: der kleine Charles, von Mutter Manson arglistig im Stadtbad von Cincinnati zurückgelassen und nach damaliger Sitte vom Bademeister kopfüber an den Turm gehängt; der junge Adolf tränenüberströmt und allein im Freibad zu Braunau am Inn – die Beispiele sind sonder Zahl.
Die Erwartung steigt. Die Leute kommen aus den Schwimmbecken, versammeln sich auf den Liegewiesen und zählen langsam bis dreihundert. Andere diskutieren darüber, ob es nicht ohnehin das Beste wäre, am Abend einfach die überzähligen Kinder unter den Inhabern von Saisonkarten zu verlosen. Am Kiosk gehen Adoptionspapiere wie warme Semmeln, während in der Männerdusche ein improvisiertes Wettbüro entsteht: Die Wetten für eine Abholung des kleinen Sergen klettern rasch auf 1:40 und darüber.
Die 300 Sekunden sind rum. „Der etwa drei- bis fünfjährige Sergen ist immer noch bei mir“, plärrt es, nun schon deutlich ungeduldiger, „bitte zählen Sie doch einfach mal Ihre Kinder durch, ob auch alle da sind.“ Nicht sehr subtil, aber lustig. Wie alle unangenehmen Dinge wie Krieg, Tod oder die Sonntagsbeilage des Tagesspiegels kann auch der Rassismus seine wahnwitzig komischen Seiten haben. Die Badegäste grinsen unsicher, und ich erwarte die nächste Durchsage: „Wenn der kleine Sergen nicht in fünf Minuten abgeholt wird, muss er leider aus Platzgründen vernichtet werden.“ Schließlich hängen die nächsten Kinder schon lange in der Warteschleife.
ULI HANNEMANN