: Oden an den Orangenbaum
Lidokino (7): Die Filme des diesjährigen Festivals in Venedig leben von der Musik – manche so sehr, dass Journalistinnen noch Stunden nach der Vorführung „You’re just too good to be true“ trällern
von CRISTINA NORD
Nach Mitternacht soll es ein Drink sein. Auf der Terrasse des italienischen Pavillons schmeckt zwar die Mischung aus Campari, Prosecco und Mineralwasser, die auf den Namen Spritz hört. Doch die Housetracks, die ein einsamer DJ auflegt, sind nicht nur viel zu laut – sie sind auch so poppig, dass sie den Namen House vermutlich gar nicht verdienen. Ans Tanzen denkt kein Mensch. Die Bars im Garten neben dem Casino haben sich derweil für die größten Hits der Siebziger, Achtziger und Neunziger entschieden.
Musikalisch subtiler geht es dafür auf der Leinwand zu. In vielen Filmen wird gesungen und getanzt, in manchen entspinnt sich der Rhythmus aus Alltagsbewegungen und -geräuschen. Im schlechtesten Fall ist Musik im Film ja eine geigenschwere Arbeit an den Gefühlen des Publikums, im besten Fall ist sie Verschwendung und Überfluss – die diesjährige Mostra hat das Glück, recht viele Filme von der zweiten Sorte zu haben.
In Manoel de Oliveiras Wettbewerbsbeitrag „Um filme falado“ etwa gibt es einen kostbaren Moment, in dem Irene Papas durch den Speisesaal eines Kreuzfahrtschiffes schweift und dabei einen Orangenbaum besingt. Sofia Coppola schickt Bill Murray und Scarlett Johansson in „Lost in translation“ vors Karaoke-Mikrofon, und seit ich Úmy Lvovskys Komödie „Les sentiments“ („Die Gefühle“) gesehen habe, will mir Vikki Carrs „Can’t take my eyes off of you“ nicht mehr aus dem Kopf – und auch die Kollegin im Pressezentrum pfeift: „You’re just too good to be true / can’t take my eyes off of you“.
Dieses Liebeslied ist schon durch so manchen Film geschmettert worden. In „Les sentiments“ vollführt Carole, eine in die Jahre gekommene Hausfrau (Nathalie Baye), dazu einen fröhlichen Tanz. Gerade schob sie noch den Staubsauger, jetzt zieht sie die Vorhänge zu und bewegt sich exaltiert. In ihrem Tanz scheint die Möglichkeit einer Harmonie auf, die Lvovskys Beziehungskomödie auf der Ebene des Plots ausschließt. Dafür initiiert der Song und der Tanz den Körper des Zuschauers: Er fängt an zu zucken und zu wippen, und wenn er das Kino verlässt, schwingt er noch eine Weile in der Erinnerung.
Auch in anderen Momenten ist „Les sentiments“ voller Musik: Es gibt einen Chor, der beim Singen kommentiert, was die vier Protagonisten – zwei durch Nachbarschaft und Seitensprung verbundene Paare – anstellen. Die Kinder von Carole und Jacques (Jean-Pierre Bacri) führen zu Ehren ihres Vaters ein kleines Stück auf, zu dem auch ein Lied gehört: „Je Älter der Bourgeois“, intoniert der Sohn, „umso mehr Scheiße steckt in ihm drin“. Die Alarmanlage des Autos schlägt so oft an, dass eine Melodie daraus wird, und dasselbe geschieht mit dem nächtlichen Schnarchen Caroles. „Les sentiments“ mag zwar nicht durchweg gelungen sein. Sobald der Ehebruch, um den der Film kreist, entdeckt wird, nimmt die Regisseurin ihrer Komödie die Luft weg: Was eben noch frivol war, hat jetzt jeden Charme verloren. Dennoch entwickeln die ersten beiden Drittel einen Sinn fürs Absurde, an dem sich deutsche Beziehungskomödien ein Beispiel nehmen könnten.
Viel Musik steckt auch in Takeshi Kitanos Beitrag zum Wettbewerb. „Zatoichi“ ist der erste Ausflug des japanischen Regisseurs ins Genre des Schwertkampffilmes. Der Film mündet in eine mitreißende Performance, in ein Crossover aus Percussion, Karneval und Steptanz, für den die japanischen Holzpantinen wie geschaffen scheinen. Auch jenseits dieses großen Finales liegt Kitano viel an der Kombination von Geräusch und Schnitt. Einmal etwa, während eine Nebenfigur eine Lektion im Stockkampf erteilt, wird aus dem Aufeinandertreffen der Stöcke schnell ein Stakkato, dem sich der Schnitt anpasst. Kaum ändert sich der Rhythmus, ist das Gelächter groß. Denn die drei Schüler geben sich nicht damit zufrieden, gegen den Stock des Lehrers zu schlagen; sie sind schneller als er, also hauen sie ihm zwischendurch auf den Kopf.
Der akustisch-visuelle Rahmen für die vielen Schwertkämpfe wird von dieser Szene vorgegeben. Die Art und Weise, wie Kitano das Geräusch des Schwertschlags und den Schnitt korrespondieren lässt, schafft eine neue Kunstfertigkeit für den Martial-Arts-Film. Doch diese Kampfszenen bleiben nicht ohne Problem. Kitano arrangiert sie so blutig, wie es eben geht: mit hervorschießenden Fontänen, abgeschlagenen Gliedmaßen und reichlich aufgeschlitzter Haut. Die meisten seiner Filme leben davon, dass sie das Blutvergießen kunstfertig überhöhen, so auch „Zatoichi“. Doch wo er sich um sich selbst dreht, läuft Kitano Gefahr zu erstarren.