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Archiv-Artikel

Der Autor als Anführungszeichen

Die Literatur ist Teil eines gut und glatt verlaufenden, zwischen prächtigen Kulissen geführten Gesellschaftsspiels: Warum es der Literaturbetrieb einem so schwer macht, sich leidenschaftlich zur zeitgenössischen deutschen Literatur hingezogen zu fühlen

Die Deutschen lieben Literatur sehr – aber lassen sie nicht erwachsen werdenDie Literatur ist zum Opfer eines gewaltigen Apparats geworden

von LÁSLÓ F. FÖLDÉNYI

Wenn ich darüber nachzudenken beginne, warum ich die deutsche Literatur eigentlich liebe oder, genauer gesagt, warum mich gerade bestimmte Werke der deutschen Literatur so leidenschaftlich anziehen, fallen mir zu meiner eigenen Überraschung zunächst nicht Buchtitel und auch nicht die Porträts von Autoren ein. Sondern vielmehr Säle, Bühnen, Galerien, in denen gerade Lesungen stattfinden. Und natürlich Gesichter. Aber nicht die der Schriftsteller, sondern die der Zuhörer. Die unten sitzen und geduldig zuhören, wie die noch lebenden Schriftsteller aus ihren Werken lesen. Und ich habe natürlich die Preisverleihungen vor Augen, die eifrigen Moderatoren und Festredner, die Buchmessen, auf denen Autoren wie frisch erlegtes Wild von einem Stand zum nächsten geschleift werden; die Korridore der Verlagshäuser und die Feuilletonredaktionen der Zeitungen, in denen über das Schicksal der Bücher entschieden wird, obwohl gerade die Literatur am wenigsten ins Gewicht zu fallen scheint.

Denke ich an die deutsche Literatur, zeichnen sich statt Bücher und Buchumschläge heute die Schauplätze der Literatur vor mir ab. Und über sie wölbt sich eine mächtige Institution, die die Literatur, einem riesigen Betrieb gleich, unaufhörlich in Gang hält, unabhängig davon, ob diese das will oder nicht oder ob es überhaupt erwähnenswerte Werke gibt oder nicht. Eine Institution, die als Literatur proklamierte Werke am laufenden Band hervorbringt. Und meine Beziehung oder richtiger meine Liebe zur deutschen Literatur – jedenfalls zur zeitgenössischen – wird unweigerlich überschattet vom Bild dieses großen, unpersönlichen und dabei zweifellos perfekt funktionierenden Betriebs.

Hin und wieder muss natürlich auch ich das Tor dieses Betriebs passieren. Als Autor, der bemüht ist, seinen Werken Bekanntheit zu verschaffen. Ich lese oft in Deutschland. Meistens aus meinen eigenen Büchern, aber es ist auch schon vorgekommen, dass ich Kostproben aus den Werken anderer ungarischer Schriftsteller geben sollte. Entweder weil die betreffenden Personen der deutschen Sprache nicht mächtig oder weil sie schon verstorben waren. Aber wo und woraus ich auch gelesen habe, stets war mir dabei unbehaglich zumute. Davon bin ich trotz der inzwischen gewonnenen Routine noch heute nicht frei. Lange führte ich das auf meine lückenhaften Sprachkenntnisse zurück. Vergeblich versuchte ich, mich hinter den tadellos übersetzten deutschen Texten zu verstecken, mein Akzent verriet mich sofort. Und wenn ich mich einmal ohne Papier äußern und auf die Fragen interessierter Zuhörer antworten sollte, geriet ich schon beim erstbesten Artikel durcheinander. Gewiss hat auch das zu meinem Unbehagen beigetragen. Aber jetzt, da ich mir vorgenommen habe, über meine Liebe zur deutschen Literatur –genauer gesagt, zu bestimmten, in deutscher Sprache verfassten Werken – zu schreiben, und dabei sofort der Schatten des Literaturbetriebs vor mir aufgetaucht ist, habe ich erkannt, dass das nicht der einzige Grund ist.

Wenn ich vor einem deutschen Publikum lesen soll, bin ich auch unbewusst stets bemüht zu entsprechen. Einerseits einem Publikum, das meine Muttersprache nicht spricht und sich anhand von Texten ein Bild von mir, meiner Schreibweise, meinem Denken, meinem Stil machen will, in denen – da sie aus dem Ungarischen übersetzt sind – kein einziges Wort von mir stammt. Also versuche ich, sie mit Geschick dazu zu bringen, meine Fremdheit zu akzeptieren; ich tue so, als wäre es selbstverständlich, dass ich, indem ich auf Deutsch lese, für die Dauer des Abends zu ihnen gehöre. Andererseits versuche ich für die Dauer des Abends in einer literarischen Tradition heimisch zu werden, die zahlreiche Werke beinhaltet, die ich liebe, ja, mit denen ich mich zuweilen auch leidenschaftlich identifiziere, die jedoch nicht wirklich meine Tradition ist, wie auch die Sprache, der sie entsprungen ist, nicht meine Muttersprache ist. Und schließlich … aber hier benötige ich einen neuen Absatz.

Schließlich versuche ich auch unbewusst, all jenen deutschen Schriftstellern und Schriftstellerinnen zu entsprechen, deren Lesungen ich mir angehört und miterlebt habe. Genauer gesagt, versuche ich nicht ihnen, sondern jener Atmosphäre zu entsprechen, die für ihre Lesungen typisch ist und die mir, einem Nichtdeutschen, in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle erstaunlich ähnlich vorkommt, unabhängig davon, ob der betreffende Schriftsteller jung oder alt, männlich oder weiblich, ein Mädchen in den Zwanzigern oder eine reife Frau, ein Dichter oder ein Prosaschriftsteller ist. Oder auch, ob er ein guter, womöglich mittelmäßiger oder vielleicht sogar schlechter Schriftsteller ist. Diese Atmosphäre ist für mich im Lauf der Jahre so selbstverständlich geworden, dass ich sie beinahe schon als etwas Natürliches akzeptiert habe. Und da das erwähnte Unbehagen während meiner Lesungen das Gefühl zu mutieren in mir geweckt hat, dachte ich, es müsse ausschließlich an mir liegen, dass ich dieser als natürlich empfundenen Atmosphäre nicht entsprechen kann.

Aber wie sind denn die Lesungen von heute? Das Erste, was mir einfällt, ist: Sie sind durch und durch unromantisch. Warum sollten sie auch romantisch sein, könnte man erwidern, schließlich leben wir nicht im Zeitalter der Romantik. Aber darum geht es nicht. Sie sind deshalb unromantisch, weil sie etwas Routinemäßiges an sich haben. Einerseits lesen die Schriftsteller routiniert: Sie haben Woche für Woche, Monat für Monat Gelegenheit, sich ihren Text einzuprägen, bis sie ihn mit geschlossenen Augen vortragen könnten. Andererseits – und vor allem – hat das System der Lesungen selbst etwas Routinemäßiges an sich. In keinem anderen Sprachgebiet Europas ist eine so große Kultur des Vorlesens entstanden wie in Deutschland. Das bringt unleugbare Vorteile mit sich. Nicht nur bezüglich der Auflagen, der Publizität usw., sondern auch, was die Organisation und allgemeine Akzeptanz des literarischen Lebens angeht. Und natürlich bleibt davon, bis zu einem gewissen Grad, die Qualität der vorzutragenden Werke nicht unberührt. Auf lange Sicht jedoch erscheint es zweifelhaft, ob dies nur Vorteile mit sich bringt.

Bei der Lektüre zeitgenössischer deutscher Literatur habe ich oft den Eindruck, als würde von vornherein, schon bei der Niederschrift der Werke, mit einkalkuliert, dass später öffentlich daraus gelesen werden soll. Und dadurch wird mit „einprogrammiert“, dass diese Werke Bestandteile eines riesigen, gut geölten Apparats werden. Dieser Apparat lässt sich nur zum Teil mit dem Leben und der Institution der Literatur gleichsetzen. Es gibt viele andere Kriterien, die nicht minder bestimmend sind und von den Autoren auch unbewusst berücksichtigt werden müssen – von den Förderungen über die Stipendien bis hin zu den erhofften Literaturpreisen. Diesbezüglich herrschen in Deutschland paradiesische Zustände.

In keinem anderen Land der Erde wird Literatur so hoch in Ehren gehalten. Die achtungsvolle Aufmerksamkeit kann jedoch auch bedrückend, ab einem bestimmten Punkt sogar ausgesprochen hemmend wirken. Sie lässt die Literatur genauso wenig erwachsen werden, wie übertriebene Mutterliebe ein verwöhntes Kind erwachsen werden lässt. Denn als Folge dieses paradiesischen Zustands ist ein feines, diskretes, aber um so strengeres System von Erwartungen entstanden, dem nicht zu entsprechen furchtbar schwer fällt. (Die Verkäuflichkeit als letzter Horizont ist ein so offensichtliches Kriterium, dass sie einer Erwähnung gar nicht bedarf.) Und eben diesem komplexen System und Apparat dienen die Werke über ein feinmaschiges Netz – vom Umfang (der weder zu gering sein noch eine allgemein vereinbarte Länge überschreiten darf) über den Ton (der, selbst wenn er Radikalität mimt, zur Mitte hin tendieren muss) bis hin zur Thematik (die seit Jahrzehnten keine echte Überraschung bietet).

Das alles führt zu einer fatalen Mittelmäßigkeit. Ich spreche bewusst von Mittelmäßigkeit: Die Werke dürfen nicht unter ein gewisses Niveau absinken, dürfen aber auch nicht „abheben“, weil dann niemand mehr da wäre, der sie wahrnehmen würde. Denn auch die Rezipienten (vom Durchschittsleser bis hin zu den berufsmäßigen Lesern) richten ihren Blick auf den Horizont des Konsenses, und wenn etwas heraushängt, beginnen sie, es zurechtzustutzen. Stromlinienförmigkeit ist die wichtigste Forderung – wie in der Autoindustrie. Aber so, wie sich seit fast zwei Jahrzehnten Autos unabhängig von ihrer Marke immer mehr angleichen, erweckt auch die überwiegende Mehrzahl der literarischen Werke zunehmend den Eindruck, als gehorche sie den Befehlen der im Hintergrund verborgenen Industriedesigner. (Lehrreich ist für mich in diesem Zusammenhang das Schicksal der Bücher von W. G. Sebald, dessen frühe Werke ich leidenschaftlich geliebt habe. Sobald er seine individuelle, unverwechselbare Stimme gefunden hatte, setzte sich der eben erwähnte Apparat in Bewegung, und perverserweise wurden am Ende gerade die Bewunderung und das allgemeine Lob zum Instrument einer diskreten Zensur. So wurde Sebalds letztes Buch, „Austerlitz“, nicht nur das erfolgreichste, sondern auch das stromlinienförmigste seiner Werke: Aus ihm war gerade jenes Risiko entschwunden, das auf seine früheren Bücher noch den Schatten wahrer Größe geworfen hatte.)

Aber zurück zu den Lesungen. Das eben Gesagte ist es, weshalb ich bei meinen Lesungen in Deutschland Unbehagen verspüre. Ich sehe die deutschen Autoren vor mir, deren Lesungen ich gehört habe, aber ich sehe nicht nur sie, sondern nehme auch das ganze unsichtbare System wahr. Ein System, dem ich als ausländischer – und dazu noch osteuropäischer– Autor nie werde ganz entsprechen können. Ich höre die Texte, die erklingen, beobachte die Choreografie, das räumliche Verhältnis zwischen Autor und Publikum, die unentbehrlichen Komponenten, den obligatorisch leidenschaftslosen Ton, der auch dann noch bewusst verhalten bleibt, wenn der Text leidenschaftlich zu werden beginnt; ich beobachte die Körpersprache des Autors, die – von Alter und Geschlecht unabhängig –am ehesten dadurch gekennzeichnet ist, dass er sich noch in seinen kleinsten Gesten von außen zu seinem Text verhält: Statt sich mit ihm zu identifizieren, postiert er sich lieber neben ihm, wodurch das Ganze ein wenig seelenlos wird. Bei der überwiegenden Mehrzahl der Lesungen wirken die Autoren wie lebendige, leibhaftige Anführungszeichen. Und wie immer lassen Anführungszeichen die erklungenen Passagen eines Werks fragwürdig werden, ja, geben sie preis. Wenn euch mein Text gefällt, nehme ich es auf mich, dass ich ihn geschrieben habe, wenn nicht, seht her: Auch ich halte etwas Abstand dazu. Denke ich an Lesungen, fällt mir vor allem die kühle Eleganz auf. Das weist jedoch nicht nur auf die Nähe zur Routine hin, sondern ist auch – und hier denke ich erneut an die makellosen Autos – der Garant für die Stromlinienförmigkeit, das reibungslose Funktionieren eines riesigen Apparats.

Wenn ich in Deutschland lese, werde ich ständig mit dem Problem konfrontiert, dass ich in einem Land angekommen bin, dessen früherer Kultur meine leidenschaftliche Liebe stets gegolten hat, das mir heute jedoch nicht mehr erlaubt, mich leidenschaftlich zu seiner Literatur hingezogen zu fühlen. Sprödigkeit und Schärfe sind dem Gehorsam gegenüber dem Konsens unterlegen, die Empfänglichkeit für die Metaphysik ist von der Zwangsvorstellung des „Gutgeschriebenseins“ verdrängt, die Vorstellung von Größe von den „gelungenen Konstruktionen“ erdrückt, und die für den literarischen Genuss unerlässliche Verwunderung vom distanzierten Verstehen abgelöst worden. Die gesunde Einverleibung und Identifikation sind vom „morbus hermeneuticus“ verdrängt worden. Die Literatur ist zum Handlanger (Opfer) eines gewaltigen Apparats geworden, und während fast alle Literaturschaffenden den unmöglichen, ja hoffnungslosen Zustand dieser Lage konstatieren, tun sie ungewollt (oder aber durchaus zielbewusst) alles, um diese Situation aufrechtzuerhalten. Die Literatur ist Teil eines überaus gut und glatt verlaufenden, zwischen prächtigen Kulissen geführten Gesellschaftsspiels geworden.

In Osteuropa, wo ich lebe, zeigt sich dieser zum Jahrtausendwechsel eingetretene Rollentausch der Literatur noch brutaler als in Westeuropa; es gibt weniger Kapillaren, weniger Vermittlung, die die Schroffheit mildern könnten, um sie am Ende sogar attraktiv zu machen. Dank dieser Schroffheit ist in gewissem Sinn auch das Verständnis größer. Deshalb habe ich, wenn ich in Westeuropa, also Deutschland, ankomme, das Gefühl, als verändere ich mich. Das erfüllt mich, wie schon erwähnt, mit Unbehagen. Aber vielleicht werde ich mich noch unbehaglicher fühlen, wenn meine Stimme glatt und ungezwungen sein wird. Dann wird zu befürchten sein, dass ich endgültig etwas verloren habe.

Aus dem Ungarischen von Akos Doma

Dieser Text ist ein gekürzter Vorabdruck aus dem Kursbuch 153: „Literatur, Betrieb und Passion“, Rowohlt Berlin, 192 S., 10 €, das ab dem 13. 9. im Buchhandel erhältlich ist. Lásló F. Földényi lebt als Essayist und Hochschullehrer in Budapest; auf Deutsch erschien von ihm zuletzt „Das Schweißtuch der Veronika“, edition suhrkamp, Frankfurt am Main 2001