: Unterricht unter freiem Himmel
Schüler und Lehrer des Nationalen Weißrussischen Gymnasiums in Minsk protestieren gegen die Schließung ihrer Schule. Die Miliz bewacht das Gebäude, das angeblich dringend renoviert werden muss. Jetzt findet der Unterricht auf der Straße statt
von BARBARA OERTEL
Für die rund 150 Schüler des Nationalen Weißrussischen Lyzeums in Minsk begann das Schuljahr am vergangenen Montag recht ungewöhnlich. Anstatt in Klassenzimmern fand der Unterricht auf der Straße statt. Die Schüler trugen T-Shirts mit der Aufschrift „Ich liebe das Lyzeum“ und hatten auch ihre Eltern mitgebracht. Auch Künstler, Journalisten und einige Parlamentsabgeordnete hatten sich aus Solidarität vor dem Schulgebäude in der Kirow-Straße im Zentrum der Hauptstadt eingefunden.
Die Freiluftpädagogik hat einen ernsten Hintergrund. Durch einen Beschluss des weißrussischen Ministerrates vom 25. Juni dieses Jahres wurde die Schule geschlossen. Zur Begründung hieß es, das „System der Lehreinrichtungen müsse optimiert“ werden. Das wollen Schüler, Eltern und Lehrer nicht hinnehmen. Sie haben angekündigt, ihre Proteste, inklusive alternativer Unterrichtsformen, bis auf weiteres fortzusetzen.
Das Aus für das weißrussische Lyzeum kommt nicht unerwartet. 1988 aufgrund einer privaten Initiative zunächst als „Sonntagsschule“ gegründet, nahm das Lyzeum im Jahr 1991 seinen vollen Lehrbetrieb auf. Das Besondere war, dass hier fortan 13- bis 17-Jährige in allen Fächern ausschließlich in weißrussischer Sprache unterrichtet wurden. Neben dem normalen Fächerkanon hatte die Schule, die sich einem humanistischen Bildungsideal verpflichtet fühlt, noch andere Aktivitäten im Angebot. So erarbeiteten Lehrer mit ihren Schülern Lehr -und Wörterbücher sowie Übersetzungen ins Weißrussische, die in einem Selbstverlag herausgegeben wurden. Lehrfilme zur Didaktik in Schulen produzierte das Lyzeum genauso wie Konzepte für Exkursionen an für die weißrussische Geschichte und Kultur bedeutende Orte.
Das Konzept schien aufzugehen, zumindest wenn man die Leistungen der Absolventen betrachtet. Denn die heimsten nicht nur die meisten Diplome bei nationalen und internationalen Schulolympiaden ein, sondern bestanden auch die Universitäts-Aufnahmeprüfungen problemlos.
So viel geballtes Wissen, besonders wenn das Individuum dabei auch noch eigenständig denkt, passte einem überhaupt nicht ins Konzept: Staatspräsident und Sowjetnostalgiker Alexander Lukaschenko. Seit 1994 an der Macht, machte der Ex-Kolchos-Direktor, der das Weißrussische nur unzureichend beherrscht, von Anfang an keinen Hehl daraus, welcher Ideologie er folgt: Resowjetisierung – was nichts anderes heißt, als Versuchen, das weißrussische Nationalbewusstsein wieder zu beleben, einen Riegel vorzuschieben.
So steht das Lyzeum seit 1997 auf der Abschussliste. Dabei sind die Methoden an Plattheit kaum noch zu überbieten. Mal wurde die Finanzierung gekappt, mal versucht, die Schule zwangsweise zu entmieten und das Gebäude an eine andere Institution zu übergeben. Wo das nicht half, schickte die zuständige Behörde die Feuerwehr oder die „Sanitätsinspektion“ vorbei, die dringenden Sanierungsbedarf feststellte. Im vergangenen Mai wurde auch noch der Gründer und Direktor des Lyzeums, Uladzimir Kolas, gefeuert. Seine Nachfolgerin, des Weißrussischen nicht mächtig, fiel nach ein paar Wochen Sprachkurs durch die Prüfung.
Auch derzeit wird „renoviert“ – allein Arbeiter hat niemand gesichtet. Dafür bewacht die Miliz das Gebäude, um Schüler und Lehrer am Betreten zu hindern. Doch die wollen nicht nachgeben. „Das, was passiert, ist ein Verbrechen an unseren Kindern. Die Staatsmacht will wieder eine blinde Generation erziehen“, sagt Uladzimir Kolas, der seinen Schülern nicht von der Seite weicht und 7.000 Unterschriften gesammelt hat. Derweil haben viele Minsker ihre Wohnungen oder Datschas angeboten, um den Unterricht weiterzuführen. Während die Gymnasiasten den Aufstand proben, büffeln ihre Altersgenossen fleißig ein Fach, das gerade eingeführt wurde: Grundlagen der Ideologie des weißrussischen Staates.