piwik no script img

Archiv-Artikel

Sex nach dem Wettsaufen

Im Prozess gegen den Koma-Sauf-Wirt widersprechen Zeugen seiner Version – etwa dass er völlig blau war

Am Telefon erfuhr der Wirt Aytac G. vom Alkoholkoma eines 16-Jährigen, mit dem er einige Stunden zuvor um die Wette getrunken hatte: 44 Tequila trank der Schüler, der Wirt trank auch Wasser. Die vierjährige Tochter einer Zeugin, G.s ehemaliger Freundin, beschrieb ihrer Mutter, wie der Wirt die Nachricht aufnahm: Der Wirt soll aufgeregt hin und her gelaufen sein und dabei mehrfach „Scheiße“ gerufen haben. Dann brachte er das Mädchen, auf das er aufpassen sollte, zu seiner Oma. Es muss ihm wohl angesichts dieser Nachricht hinderlich gewesen sein.

Das Verhalten des Wirts Aytac G. wird jetzt vom Landgericht Berlin genauer analysiert, vor dem sich dieser seit dem 11. Februar wegen Körperverletzung mit Todesfolge verantworten muss. Es sind überwiegend jugendliche Zeugen, die die 22. Große Strafkammer an den ersten drei Verhandlungstagen befragte, denn die Bar Eye T, die der Angeklagte damals betrieb, war ein Anziehungspunkt für Minderjährige. Sie hätten hier billig und ohne Ausweiskontrollen Alkohol bekommen, sagen etliche Zeugen. Sie bestätigen damit die Vorwürfe der 180 Fälle umfassenden Anklage, die dem Barbetreiber auch 174 Verstöße gegen das Jugendschutzgesetz vorwirft.

Doch ist Aytac G. auch schuld am Tod des Schülers? Er bedauere das Wetttrinken und er fühle sich verantwortlich für den Tod des 16-Jährigen, ließ der Angeklagte zu Prozessbeginn von seiner Verteidigerin vortragen. Allerdings hat sich Aytac G. bis heute nicht bei der Mutter seines Opfers entschuldigt, obwohl ihm klar sein musste, dass er den zehn Jahre Jüngeren mit seinem Betrug zu dessen immensen Alkoholkonsum provoziert hatte.

„Ich denke, dass er bei einer normalen Trinkgeschwindigkeit nicht diese Grenze erreicht hätte“, sagte Jutta W., die Mutter von Lukas. Dem Gericht erzählte die 55-jährige geschiedene Diplom-Bibliothekarin von den „ziemlich heftigen Auseinandersetzungen“, die sie mit ihrem Sohn über das Thema Alkohol geführt hatte, weil ihr nicht entgangen war, dass „Lukas gelegentlich mehr getrunken hatte, als ihm guttat“. Von dem Wetttrinken dagegen wusste sie vorher nichts, „weil er geahnt hätte, wie ich darauf reagiere“. Sie nahm an, Lukas würde bei einem Freund übernachten. Bis heute habe sie das Geschehene nicht verarbeitet.

Aytac G. dagegen bietet seit jener Februarnacht vor zwei Jahren immer neue Versionen für das Vorgefallene an, die jedoch im Kontrast zu den Zeugenaussagen stehen. Lukas habe ihn mit dem Angebot eines Wetttrinkens überrascht, gab der Wirt an. Doch Freunde des Schülers äußerten, bereits Wochen vorher von einer solchen Verabredung gehört zu haben. Drei von ihnen hatte Lukas W. Wochen, Tage, Stunden zuvor gebeten, ihn zu dem Wetttrinken zu begleiten und auf ihn aufzupassen, doch alle drei hatten ihm abgesagt.

Außerdem gab G. an, er sei nach dem Wetttrinken stark betrunken gewesen. Offensichtlich jedoch nicht so stark, um problemlos den Weg zur Wohnung seiner damaligen Freundin mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu meistern. Dort sollte er auf das vierjährige Mädchen aufpassen. In die Wohnung begleitete ihn eine 22-Jährige, die dem Gericht einen weiteren Hinweis auf den offenbar nicht allzu hohen Alkoholpegel des Wirts lieferte: Während Lukas W. mit akutem Sauerstoffmangel kämpfte, amüsierte sich der Angeklagte mit seiner Begleitung beim Sex.

Kurz nachdem Aytac G. von den polizeilichen Ermittlungen erfahren hatte, habe er seinen Kellnern, Jugendlichen im Alter von 16 bis 20 Jahren, eingeschärft, über das Wetttrinken zu schweigen. Vielmehr sollten sie sagen, Lukas sei schon betrunken ins Eye T gekommen – so berichtet es eine damals 16-jährige Aushilfskellnerin vor Gericht. Sie aber habe bei der Polizei die Wahrheit gesagt: „Das musste einfach sein, das war eine moralische Pflicht.“ UTA EISENHARDT