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Archiv-Artikel

Manager für den freien Fall

AUS RÖBEL UND WAREN BARBARA BOLLWAHN

Da stehen die Schlagworte, die für Unmut und Unsicherheit sorgen, für Frustration und Wut. Ein Overheadprojektor wirft die Begriffe an die Wand, die die Menschen auf die Straße treiben und den sozialen Frieden im Lande gefährden. Anreize, Sanktionen, Leistungen zur Eingliederung in Arbeit, Zumutbarkeit, Bedarfsgemeinschaft, erwerbsfähige Hilfebedürftige. Doch die 15 Frauen und Männer, die auf vergrößerte Folien schauen, sind guter Dinge, obwohl jeder von ihnen das Gesetz zur Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe bald am eigenen Leib zu spüren bekommen wird.

Ihre Gelassenheit rührt daher, dass sie nur indirekt betroffen sind. Sie selbst werden nicht von 331 Euro leben müssen, die das Hartz-IV-Gesetz den Arbeitslosen im Osten lassen wird, sie werden auch nicht ihr Erspartes plündern müssen oder die Rücklagen für die Ausbildung ihrer Kinder. Aber sie werden den betroffenen Menschen sagen müssen, dass es so ist. Sie sind Berater und Vermittler in den Arbeitsagenturen und ab Januar kommenden Jahres die Überbringer der schlechten Nachrichten.

In der Einleitung zu den „Ersten Basisinformationen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende“, herausgegeben vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, Referat Kampagnen und Redaktion, heißt es: „Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ist ein Gebot der Vernunft.“ Ob die Empfänger das auch so sehen, werden die Agenturmitarbeiter in einem knappen halben Jahr wissen.

Von Montag bis Donnerstag vergangener Woche haben sie sich in einem Schulungsraum der Arbeitsagentur Röbel im Landkreis Müritz im Süden Mecklenburg-Vorpommerns von einer Leistungsberaterin einweisen lassen in die „Grundmodule“ von Sozialgesetzbuch II und Arbeitslosengeld II. Gleich nach der Begrüßung hat die Kursleiterin die Richtung zusammengefasst: „Wir betreiben nur noch Grundsicherung und schnelle, passgenaue Vermittlung.“

Die Schulungsteilnehmer nicken, das ist ihnen bekannt. Auch Reinhard Hildebrandt, der bei der Arbeitsagentur im nahe gelegenen Waren an der Müritz arbeitet, kennt den vorgegebenen Kurs. Das neue Gesetz nennt er „nicht massenfreundlich“. Dass ausgerechnet eine rot-grüne Regierung „ans Eingemachte“ geht, findet er erstaunlich und mutig. „Das steht in krassem Gegensatz zu dem, was versprochen wurde.“ Doch, fügt er hinzu, die Änderungen seien notwendig. Noch etwas ist ihm wichtig, zu betonen: „Die Leute gehen mit Halbwissen verunsichert auf die Straße. Dabei werden die, die jetzt niedrige Ansprüche haben, besser dastehen.“

Der 49-Jährige mit den stechend blauen Augen und der Halbglatze hat zu DDR-Zeiten Landwirtschaft studiert und bis zur Wende von 1989 Roggenarten und Rasengräsersorten gezüchtet. Dann wurde er auf Kurzarbeit Null gesetzt. Ein Fußballmatch brachte ihm neue Arbeit. Er spielte als Vorstopper in der Dorfmannschaft zusammen mit einem alten Kumpel, einem Mittelstürmer. Der hatte eine Anstellung beim Arbeitsamt gefunden und empfahl ihm das Gleiche. Einzige Voraussetzung dafür war ein Hochschulabschluss.

Gibt es Geld fürs Kino?

Das war 1991. Jetzt ist Hildebrandt das, was man einen alten Hasen nennt. Wie viele Schulungen er schon absolviert hat, er weiß es nicht. Und wieder muss er Neues lernen. Seine Arbeit nennt er „hochinteressant“, die Fortbildungen ein notwendiges Übel, um den Job gut zu machen. „Diese Änderungen sind gravierend“, sagt er, „weil wir jetzt das letzte Glied in der Kette sind.“

Es hat den Anschein, dass dann, wenn Geld gespart werden soll, auch bei den Begriffen gekürzt wird. Auf der letzten Seite des Schulungsmaterials sind 16 Buchstabencodes aufgelistet. AU steht für Arbeitsunfähigkeit, EHB für einen erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, LU für Lebensunterhalt, RL für Regelleistung, KdU sind Kosten der Unterkunft und Heizung, MuK ein minderjähriges unverheiratetes Kind. Die kryptischen Buchstabenfolgen sind als Erleichterung für den Bürokratiealltag gedacht, nicht für den Umgang mit den Antragstellern. Deshalb empfiehlt die Kursleiterin: „Das sollten Sie dem Bürger gegenüber nicht verwenden.“

Die Abkürzungen, die Kopfschütteln und Erheiterung auslösen, sind nur eine Fußnote. Viel schwieriger ist es für die Arbeitsamtsmitarbeiter, die Paragrafen des Gesetzestextes zu verstehen, um sie später anwenden zu können. Die „Regelleistung“ zum Beispiel. Die Schulungsleiterin erklärt, dass dazu neben Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat und Bedarf des täglichen Lebens „in vertretbarem Umfang auch Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen Leben“ gehören. Hildebrandt legt die Stirn in Falten. Er hat keine Ahnung, wie breit oder wie eng dieser Spielraum bemessen ist. „Sicher sind damit nicht 150 Euro fürs Spielkasino gemeint“, unkt er, „aber vielleicht eine Kinokarte?“ Er markiert die Stelle in seinen Unterlagen mit einem Fragezeichen.

Es bleibt nicht bei dem einen. Im Gesetzestext steht, dass die Agentur für Arbeit feststellt, ob Erwerbsfähigkeit bei einem Arbeitslosen vorliegt. Wer wie darüber entscheidet, wird nicht erläutert. Oder der Paragraf, der die Leistungen für den „Mehrbedarf zum Lebensunterhalt“ regelt. Bei Alleinerziehenden, so lernt Hildebrandt, gibt es zwei Optionen. So weit, so klar. Doch dann wird’s unverständlich. Entweder bekommen sie zusätzlich 36 Prozent der „Regelleistung“ für ein Kind oder 12 Prozent für jedes Kind, aber keinesfalls mehr als 60 Prozent der Regelleistung, egal wie viele Kinder es sind. „Das begreift doch kein normaler Mensch mehr“, stöhnt Hildebrandt.

Selbst wenn er bis Anfang nächsten Jahres das neue Gesetz im Schlaf aufsagen kann, weiß Hildebrandt jetzt schon, dass sich der Ärger und die Wut von Arbeitslosen, die unverschuldet ihre Anstellung verloren haben, zwischen den Paragrafen verfangen und bei ihm entladen wird. In seinem Büro in Haus 5 des dreistöckigen Klinkerbaus im „Müritz-Center“ am Stadtrand von Waren. Die Arbeitsagentur liegt hinter einer Tankstelle am Rande der Stadt in einem Gewerbegebiet, wo Discounter den Ton angeben.

Dabei befindet sich Waren an der Müritz in einem Paradies. Die 21.000 Einwohner zählende Stadt liegt an Deutschlands größtem Binnensee und ist ein Luftkurort, der in Reimform für sich wirbt. „Baden, Wandern, Wasserfahren – nirgends schöner als in Waren“. Hunderte von Seen und ein Nationalpark mit über 600 Kilometer Rad- und Wanderwegen sind ein Paradies für Angler, Segler, Surfer, Radfahrer, See- und Fischadler, Kraniche und Kormorane. Nur für Menschen, die Arbeit suchen, ist dieses Paradies kein Paradies.

Die aktuelle Statistik der Arbeitsagentur Waren weist 7.186 Arbeitslose und Arbeitssuchende auf, die Arbeitslosigkeit liegt damit bei 23 Prozent. Die sollen nach dem Willen von Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) alle eine bessere Vermittlung bekommen. Hildebrandt ist nicht anzumerken, ob er die ministerielle Ankündigung für realistisch hält. „Meine Meinung spielt keine Rolle“, sagt er diplomatisch.

So steht es im Gesetz

Ab Januar wird Hildebrandt ein „Fallmanager“ sein. So heißen die „persönlichen Ansprechpartner“ für die „erwerbsfähigen Hilfebedürftigen“, die Eingliederungsvereinbarungen erstellen sollen. Maximal 75 „EHBs“ soll er dann betreuen. Derzeit kommen in Waren auf einen Mitarbeiter der Arbeitsagentur 700 Arbeitslose. Von zusätzlichen Stellen weiß Hildebrandt nichts.

Er kann nur Auskunft geben über die Nervosität der Leute, die er jetzt schon feststellt. Vergangenen Donnerstag zum Beispiel. Ein von der Arbeitsagentur finanzierter Fortbildungsträger hatte einer Landwirtin, die eine Umschulung zur Physiotherapeutin machen wollte, eine Einladung zu einer Informationsveranstaltung geschickt. Für die Frau ein klares Zeichen, dass Hildebrandt ihr den Gutschein für die Fortbildung geben werde. Als sie sich noch über das Fünkchen Hoffnung freute, wurde sie jäh enttäuscht. Die Benachrichtigung stellte sich als Irrtum heraus. Sie hatte bei dem Ranking, das über ihren potenziellen Vermittlungserfolg entscheidet, nur 63 von 100 Punkten erreicht und hätte keinen Brief erhalten dürfen.

Die Landwirtin ließ sich einen Termin bei Hildebrandt geben. Der hat den Fehler zwar nicht zu verantworten, muss ihn aber ausbaden. Mit hochrotem Kopf platzt nach einigen Minuten der Ehemann ins Zimmer. „Damit machen Sie Menschen fertig!“, wirft er Hildebrandt an den Kopf. Er erzählt von den drei Kindern, dem mühsam abbezahlten Haus und seiner Frau, der nun ein Kurs verweigert werde. „Das ist Menschen erniedrigend“, schimpft er. Hildebrandt versichert ihm, seine Situation zu verstehen und den Fehler des Fortbildungsträgers zu bedauern. „Ach, hör auf“, sagt der Mann aufgebracht und macht eine wegwerfende Handbewegung. Mit einem Türenschlagen verschwindet er aus Hildebrandts Büro.

Hildebrandt geht davon aus, dass im nächsten Jahr „die Schärfe zunehmen wird“. Er kann den Frust vieler Leute verstehen. „Es gab Jahre, da wurde Fortbildung als soziale Friedensmaßnahme angeboten“, sagt er. Angst vor handgreiflichen Auseinandersetzungen wie in anderen Arbeitsagenturen, die sich jetzt einen eigenen Sicherheitsdienst schaffen, hat man in Waren nicht. Schon lange gibt es unter den Schreibtischen Knöpfe, ein Druck und die Kollegen eilen zur Hilfe.

Hildebrandt hat sich daran gewöhnt, für viele der Buhmann zu sein. „Der Öffentlichkeit wird suggeriert, das Arbeitsamt würde Arbeitsplätze streichen oder schaffen. Wir können aber nur Hilfskrücken bauen.“ Ab Januar nächsten Jahres wird er mehr als jetzt betonen, dass er und seine Kollegen „keine bösen Menschen“ sind und „alles haarklein geregelt ist“ in diesem Gesetz, das Hartz IV genannt wird. Er geht davon aus, dass die „Ecken und Kanten“, die es noch hat, reparabel sind. Das wird ihm selbst nicht unbedingt ein Rettungsring sein, aber vielleicht ein Strohhalm, an den er sich klammern kann, wenn er sagt: „Das steht so im Gesetzestext.“