: Dominanz mit Kratzern
Klare Verhältnisse wünschen sich die kubanischen Boxer um Coach Sarbelio Fuentes bei Olympiain Athen. Sechs Goldmedaillen sollen es mindestens werden. Doch die Konkurrenz schläft nicht
AUS HAVANNA KNUT HENKEL
Den langen Schatten von Felíx Savón hat Odlanier Solís täglich vor Augen. Bei jedem Training in der Finca Horbeín Quesada schweift sein Blick irgendwann einmal über die mannsgroßen Schwarz-Weiß-Fotos an der Längsseite der Halle. Felíx Savón ist dort genauso wie der legendäre Teófilo Stevenson zu sehen und natürlich auch ein mit Boxhandschuhen bewaffneter Fidel Castro. Je drei Olympiatitel im Schwergewicht haben die beiden kubanischen Ausnahmeboxer eingefahren, und Odlanier Solís will es ihnen nur zu gern gleichtun. „Ich fahre nach Athen, um Olympiasieger zu werden“, betont der Athlet. Eine Einstellung, die Sarbelio Fuentes nur zu gern hört. Für den kubanischen Nationalcoach ist Solís einer der Favoriten, und während der Qualifikation für Athen hat der bewegliche junge Mann nichts anbrennen lassen. Frühzeitig und klar hat er sich bei den Panamerikanischen Spielen in Santo Domingo im letzten Jahr das Ticket nach Athen gesichert und genauso zielstrebig ist er bei den beiden Weltmeisterschaften, die er bisher bestritt, zu Werke gegangen. In Belfast im Jahr 2001 holte er sich die Goldmedaille, zwei Jahre später in Bangkok stand er wiederum ganz oben auf dem Treppchen.
Nun also Athen. Solís ist hoch motiviert, und auch Teamkapitän Mario Kindelán hat vor der Abreise nach Europa große Ziele formuliert. Sechs oder sieben Titel erwartet er von seiner Equipe. Die ist nach einem Höhentrainingslager in Guatemala glänzend vorbereitet und weitaus wichtiger: niemand ist verletzt, so Sarbelio Fuentes. Unter der Regie des 74-jährigen Boxweisen fand der Umbau der erfolgreichen Staffel von Sydney statt. Um Kindelán (60 kg) und Guillermo Rigondeaux (54 kg), die beiden Olympiasieger von Sydney, baute Fuentes die neue Staffel auf. Zu der gehören mit Yan Barthelemí (48 kg) und Juan Pablo Hernández (81 kg) zwei Boxer, auf die Fuentes große Stücke hält und die für eine Überraschung in Griechenland sorgen könnten. Klare Medaillenanwärter sind hingegen Lorenzo Aragón (69 kg) und Odlanier Solís (91 kg), beide amtierende Doppelweltmeister. „Die Nationenwertung wollen wir in Athen gewinnen und wenn es nach mir geht, sollte auch der beste Boxer des Turniers aus Kuba kommen“, sagt Fuentes lächelnd.
Bei zwei Weltmeisterschaften fungierte der untersetzte Mann mit dem raspelkurzen weißen Haarkranz bisher als Headcoach und Nachfolger von Alcides Sagarra. Sagarra nimmt seit Sydney repräsentative Aufgaben in der kubanischen Boxkommission wahr, steht aber laut Fuentes nach wie vor mit Rat zur Verfügung. Geändert hat Fuentes, der sieben Jahre in Argentinien als Trainer arbeitete, nichts Wesentliches. „Wir sind ein Trainerkollektiv, das war vorher so und ist jetzt so. Wir halten uns an das bewährte Grundkonzept der kubanischen Boxschule“, sagt Fuentes und lässt den Blick über die drei Boxringe in der Halle schweifen. Mit einem Durchschnittsalter von rund 25 Jahren hat die derzeitige Staffel Perspektive, und in der Hinterhand warten genügend neue Talente. Aus rund 50 Boxern besteht der erweiterte Stamm der Nationalmannschaft, und Jugendtrainer Pedro Roque sorgt beständig für hochwertigen Nachschub. Der zeigt keinen Respekt vor großen Namen, und auch ein Kindelán muss sich im Training den Bemühungen der Jüngeren erwehren, die ihn vom Thron stoßen wollen. Unter den Augen von Chefcoach Sarbelio Fuentes hält Kindelán den Gegner eine Runde auf Distanz, um ihn in der nächsten Runde nach allen Regeln der Boxkunst auszukontern.
Fuentes zieht nur einmal kurz anerkennend die Brauen hoch, bevor er die Glocke am Ring ertönen lässt. Das Sparring ist für Kindelán beendet. Ein Trainer streift ihm den Kopfschutz ab und greift nach seiner Hand: Pulskontrolle. Penibel läuft die Vorbereitung in Boxcamp Horbeín Quesada, denn die Konkurrenz schläft nicht. Russland und Kasachstan hält Fuentes für die größten Rivalen in Athen, hat aber auch die asiatischen Boxer auf dem Zettel.
Doch auch vor der eigenen Haustür wächst den erfolgsverwöhnten Kubanern Konkurrenz heran. Allzu lässig traten die Faustkämpfer von der Insel im letzten Jahr bei den Panamerikanischen Spielen in Santo Domingo an. Statt der elf einkalkulierten Medaillen mussten sie sich mit sechs begnügen. Mexikaner, Dominikaner und Venezuelaner haben, teilweise mit kubanischen Trainern, aufgeholt. Die Dominanz der Kubaner zeigt Kratzer. Und über den Ausgang der letzten Weltmeisterschaft in Bangkok kann sich Fuentes noch heute ärgern: „Erst im letzten Kampf haben wir die Nationalwertung an Russland verloren, daraus haben wir gelernt“, betont der gedrungene Coach mit leiser Stimme. Pedro Carrión war es, der damals im Superschwergewicht gegen die russische Konkurrenz verlor. In Athen ist Carrión nicht dabei. Er hat die interne Qualifikation gegen Michel López nicht bestanden und will die Boxhandschuhe ausziehen: „Im September gehe ich nach Deutschland, um dort mit meiner Frau und dem gemeinsamen Kind zu leben“, sagt er. Berlin ist sein Ziel, für seinen Kumpel Odlanier Solís ist es das Treppchen in Athen.