: Der geheiligte Montag
Der Montag ist seit dem Niedergang der DDR 1989 ein unberührbarer Tag. Da kann man doch jetzt nicht plötzlich wieder einfach gegen alles Mögliche demonstrieren. Oder kann man etwa doch?
AUS DRESDEN MICHAEL BARTSCH
Nein, so etwas! Schon wieder sind feindlich-negative Kräfte einer extremen Minderheit am Werk und usurpieren den heiligen Montag, die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu stören! Derf’n died’n das? Wenn es wenigstens gegen die Stasi ginge! So aber geht es doch nur um die Frage, ob man als Arbeitsloser künftig noch Konfitüre oder bloß Marmelade auf den Frühstückstoast schmieren kann. So jedenfalls sieht es Bundesmisswirtschafts- und Arbeitslosenminister Wolfgang Clement, wenn er den Ostdeutschen eine Beleidigung der historischen Montagsdemo-Tradition vorwirft. Denn die Sozis lassen doch niemanden verhungern! Dabei müsste auch Clement zugeben, das es sich hierbei um eine existenzielle, wenn nicht gar existenzialistische Frage handelt. Vergleiche Sartre: Der Mensch ist – nicht isst – eine gemeine Marmelade.
Vielleicht sind die Sozialdemokraten aber auch nur sauer, weil zu den neuen Montagsdemos so viele Leute kommen, zu einer Kundgebung mit Siegmar Gabriel in Dresden aber nur ein Einziger. Und der war auch noch von der Jungen Union. Diese vielen Leute nutzen nun zwar ein Grundrecht auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit. Aber müssen sie es ausgerechnet am Montag nutzen? Danach hätten sie doch bitte schön einige Revolutionswächter und Montagsmythosbewahrer vorher fragen sollen! „Gedenke, dass du den Montag heiligst“, lautet seit 1989 das Gebot Nummer 3a. Folglich spricht der Schriftsteller Erich Loest von „Blasphemie“, wenn jetzt ganz ungeniert Montag mit Montag gleichgesetzt wird. Der Ost-Natschalnik der CDU-Bundestagsfraktion, Günter Nooke, ist da zurückhaltender, kritisiert aber auch Montagsdemos, die gar keine seien. Denn damals ging es um Systemopposition, heute nur um Wohlstand. Um Konfitüre sozusagen. Oder zeigen die Demos doch, wie sogar die Bürgerrechtlerin Freya Klier meint, dass die Bürger mündig geworden seien?
Im Kniefall vor den Altären der eigenen Geschichte tappen manche eben in die Falle historischer Analogien. Der Sozialismus war auch an sich gut. Kritik war sogar erwünscht, wenn sie nur keine grundsätzlichen Fragen stellte. Bloß keine Systemkritik, gilt heute wieder. Es kann sich daher nur um kosmetische Sonderwünsche Einzelner handeln, wenn sich Unmut auf der Straße Bahn bricht. Für den ist dann auch leichter Verständnis aufzubringen, wie es sogar die Kritiker der Montagsbesudelung bekunden. Deshalb sollte jede Demo, wenn sie schon unbedingt montags stattfinden muss, auf dem vordersten Transparent ihre Grundgesetztreue bekunden. Bedenklicher stimmt, dass Kritiker wie Loest so tun, als sei mit den „Wir sind das Volk“-Rufen von 1989 ein für alle Mal ein statisch-paradiesischer Endzustand herbeidemonstriert worden. Geschichte im Einweckglas sozusagen. Als ob es keine analogen Situationen des Volkszorns mehr geben dürfe. Man könnte mit Goethe sogar den Verdacht aussprechen: „Geschichte schreiben ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen.“ (Die Ziele der 89er-Demonstranten waren übrigens auch diffus und teilweise divergierend, wie sich spätestens bei den Märzwahlen 1990 zeigte.)
Über das Ausmaß des gegenwärtig aufflammenden Volkszorns im Osten sollte sich niemand täuschen. Allein schon deshalb nicht, weil diesmal zunächst nicht die professionellen Demo-Organisatoren der Gewerkschaften oder der PDS am Werke waren, sondern viele spontane Initiativen. Eine andere Frage ist, ob Parteien wie die PDS als Trittbrettfahrer hieraus für den Wahlkampf Profit schlagen können. Bürger haben sich äußerlich meist mit den Verhältnissen arrangiert. Der von Hans-Joachim Maaz beschriebene Gefühlsstau aber ist noch nicht abgebaut. Es überrascht, wie viel Sympathie die Demonstranten auch bei Nichtbetroffenen genießen. Jeder weiß und fühlt nicht nur: Morgen schon kann auch mein vermeintlich sicherer Arbeitsplatz weg sein. Dieses Klima der Verunsicherung über das produktive und Selbstständigkeit stimulierende Maß hinaus schlaucht einfach auf die Dauer.
Aufpassen sollten gerade die Leipziger dennoch, dass der nun einmal geschichtlich besetzte Begriff „Montagsdemo“ durch inflationären Gebrauch nicht abgenutzt wird. Nikolaikirchenpfarrer Christian Führer hat auf diese Gefahr schon hingewiesen. Den Himmel um Beistand zu bitten, damit die Stadt den Olympia-Zuschlag bekäme, grenzt wirklich an Blasphemie. Aber auch hier wird man heute noch viel weniger als 1989 „dem Volk“ vorschreiben können, wofür es wann und wo zu demonstrieren hat. Dann eben doch ein anderes Volk wählen! Oder die Dienstagsdemo einführen.