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Archiv-Artikel

„Lafontaine spitzt bloß zu“

Der ehemalige SPD-Chef habe inhaltlich Recht mit seiner Kritik an der Agenda 2010 – ohne Kurskorrektur wird die SPD weiter abstürzen, sagt Ottmar Schreiner

taz: Herr Schreiner, hat sich Ihr saarländischer Freund Oskar Lafontaine im Sommerloch gelangweilt – oder warum sorgt er jetzt für so viel Wirbel?

Ottmar Schreiner: Warum er sich ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt zurückmeldet, ist mir auch unklar. Für die saarländische Landtagswahl am 5. September ist das nicht so hilfreich. In der Sache aber hat er lediglich zugespitzt, was er und andere schon länger an inhaltlicher Kritik am SPD-Kurs vorzubringen haben. Und die Botschaft lautet: Er wird in Zukunft nicht mehr bloß kommentieren, sondern mehr agieren.

Nun will die SPD-Spitze aber auf keinen Fall zulassen, dass der ehemalige SPD-Chef noch irgendeine Rolle spielt.

Was heißt hier „nicht zulassen“? Er wird jetzt eben mehr Veranstaltungen von SPD-Bezirken besuchen, zu denen er eingeladen wird. Dies hat er in Stuttgart neulich schon sehr erfolgreich getan.

Der heutige SPD-Chef Franz Müntefering sagt, Lafontaine sei „einer aus dem vergangenen Jahrhundert“, andere SPD-Spitzen bezeichnen ihn als „eitel“ und „Narziss“.

Diese Vorhaltungen sind albern. Aus dem vergangenen Jahrhundert sind wir alle. Wir haben den Großteil unseres Lebens dort verbracht. Narzissmus spielt bei Spitzenpolitikern ebenfalls immer eine Rolle. Nur hat Lafontaine immer auch auf politische Inhalte Wert gelegt. Er war einer der ersten, die in den 80er-Jahren versucht haben, die Herausforderungen der Globalisierung positiv zu wenden. Und jetzt sagt er, was einige von uns seit eineinhalb Jahren sagen: Ohne Kurskorrekturen an der Agenda 2010 wird die SPD weiter abstürzen. Und die Umfragen geben uns Recht.

Die SPD-Spitze verweist darauf, dass die Agenda 2010 von sämtlichen Gremien und vom Parteitag abgesegnet wurde.

Sie vergisst dabei darauf hinzuweisen, dass die Zustimmung nur durch massiven Druck zustande kam, unter anderem indem der Kanzler mit Rücktritt drohte. Die SPD hat die Kröte bloß widerwillig geschluckt. Gegen eine Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe ist ja nichts einzuwenden. Man hätte das jedoch mit einer Ausweitung des öffentlichen Beschäftigungswesens koppeln müssen. Dies haben die skandinavischen Länder erfolgreich vorgemacht. Aber mit Hartz IV werden bloß die materiellen Bedingungen der Arbeitslosenhilfe-Empfänger verschlechtert. Das ist platter Sozialabbau ohne inhaltliche Orientierung und ohne Konzept.

Es sollen doch in den Kommunen und bei den Sozialverbänden 1- und 2-Euro-Jobs geschaffen werden …

… aber nicht für 2,2 Millionen Langzeitarbeitslose. Wenn das überhaupt klappt, wird das ein Tropfen auf den heißen Stein.

Halten Sie Kurskorrekturen etwa bei „Hartz IV“ überhaupt noch für möglich?

Ich halte sie für unabdingbar, auch wenn der Zeitkorridor bis Januar 2005 natürlich eng ist. Wenn keine Korrektur kommt, kann ich nur sagen: Die Skala der Zustimmungswerte für die SPD ist nach unten noch offen.

Wenn Lafontaine zu einer neuen Linkspartei geht – gehen Sie dann mit?

Das ist mir gerade alles viel zu spekulativ. Man muss sehen, wo wir in einem halben Jahr stehen, wenn auch die anstehenden Landtags- und vor allem die Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen verloren wurden.

INTERVIEW: ULRIKE WINKELMANN