montagsdemos
: Kein Anspruch auf Alleinvertretung

Als „töricht und geschichtsvergessen“ hat Joachim Gauck, Mitstreiter der Revolution von 1989 in der DDR und langjähriger Chef der gleichnamigen Behörde, die Bezeichnung „Montagsdemos“ gegeißelt. Denn wer unter einer solchen Bezeichnung in der Bundesrepublik, einem demokratischen System, gegen den Sozialabbau demonstriere, verkenne, dass es sich bei den Demos von 1989 um einen „fundamentalen Widerstand gegen das DDR-Regime“ gehandelt habe. Gaucks Gegenüberstellung von 1989 und 2004 verfährt abstrakt und führt in der Konsequenz dazu, den Demonstranten von heute eine selbstsüchtige Interessenpolitik zu unterstellen.

KOMMENTARVON CHRISTIAN SEMLER

Die Initiatoren der Demos haben den „Montag“ als Bezeichnung deshalb gewählt, um an den massenhaften und friedlichen Protest vom Herbst 89 anzuknüpfen. Damals wie heute handelt es sich um spontane, das heißt von keiner zentralen Politstelle gelenkte Aktionen. Und in beiden Fällen geht es in der Tat um „Fundamentales“. Denn die Demonstranten des Sommers 2004 sehen in der Agenda 2010 die Aufkündigung des „Sozialen“ an der sozialen Marktwirtschaft, sie sehen in ihr eine Kriegserklärung Schröders an den sozialen Frieden. Sodass für diejenigen, die an Gottes Abhilfe glauben, sogar eine Wiederholung der damaligen Friedensgebete am Platze wäre. „Missbrauch“ des Begriffs „Montagsdemonstrationen“? Wer so redet, zeigt sich blind gegenüber dem Zusammenhang zwischen sozialer und demokratischer Systemintegration. Der glaubt, im demokratischen Rechtsstaat sei alles in Butter und die Rutschbahn Richtung Autoritarismus ausgeschlossen.

Die Montagsdemos von damals jetzt mit einem Patentstempel zu versehen, heißt, Daten und Symbole zu fetischisieren. Ganz so, als ob historische Akteure ihre Politik nie in der Vorstellungswelt ihrer Vorgänger ausgedrückt hätten. Man denke nur an die Verwendung von Begriffen der Französischen Revolution durch spätere Generationen. Die Nachfahren mögen sich hierin geirrt haben – legitim war ihr Versuch allemal.

Die Leipziger Demonstrationen von 1989 vermitteln uns gänzlich unterschiedliche historische Botschaften. „Wir sind das Volk“ oder „Wir sind ein Volk“? Beide Slogans bestimmten nacheinander und (bedauerlicherweise) sich ausschließend das Geschehen. Dass die jetzigen Montagsdemos bundesweit stattfinden, könnte als Synthese verstanden werden. Die Dialektik geht oft seltsame Wege.