: Wespenkunde für Geschichtsrevisionisten
Auch wenn die Wahrheit schmerzt: Die Deutsche Wespe ist, wie jeder andere Deutsche auch, vor allem Opfer
Tief steht die Sonne über Getränke Hoffmann in der Neuen Welt. Den ganzen Tag haben die Mitarbeiter dieses wackeren kleinen Getränkehandels gegen den Durst gekämpft. Jetzt haben sie Feierabend und kühlen ihre geschwollenen Füße in großen Eimern. Das haben sie sich redlich verdient.
Von der Neuen Welt aus kann man die Alte Welt sehen und umgekehrt. Neue Welt und Alte Welt sind nicht nur die Protagonisten des bislang noch eher unter der Oberfläche schwelenden Hauptkonflikts von Morgen, sondern hier Getränke Hoffmann und dort der große Biergarten, in dem wir, träge von der Hitze, sitzen. Neukölln zeigt sich von seiner edelsten Seite – kein „Leckmuschi“ grölender Krachmann und keine „Miss Arschgeweih 2004“. Man unterhält sich in distinguiertem Flüsterton, nur uns gegenüber liest eine Frau einer anderen vor: So weiß ich endlich mal, wie nervig das ist. Bäume spenden reichlich Schatten – daneben lagern wir in der Abendsonne, mit Blick auf Getränke Hoffmann. Die Bedienung mit dem niedlichen dänischen Akzent bringt frisch gezapfte Biere. Es gibt auch Essen – wunderbare dänische Burger zum Beispiel, mit dänischem Zeug drauf, dänischem Kram und dänischer Remoulade. Wir haben allerdings was anderes bestellt.
Appetitlos knabbern die Wespen am Schollenfilet. Dabei sollen die doch dieses Jahr so aggressiv sein: Von den laut taz 200 Wespenarten (der Tagesspiegel kennt sogar nur sieben, aber der zählt bestimmt nur diejenigen, die lesen und schreiben können) sind nur zwei halbwegs fies – die Deutsche Wespe mit der vergifteten Pickelhaube am Arsch und die Gemeine Wespe. Diese beiden haben die anderen 200 Arten verschleppt und getötet. Wobei die Deutsche Wespe, von der Gemeinen natürlich nur verführt wurde, selbstverständlich bar jeder Chance – wenn der Stachel juckt, dann entwickelt sich halt schnell so eine böse Eigendynamik. Im Grunde ist die Deutsche Wespe doch selber Opfer – das muss man auch einfach mal im historischen Kontext sehen. Wespengift ist übrigens angeblich gut gegen Krebs – da kann ich mich ja provisorisch mal stechen lassen: Ich necke eine Wespe, indem ich sie an den Fühlern ziehe, doch sie ist einfach zu träge. Ich reiße so lange, bis der Kopf abgeht – und da behaupte noch einer, im Sommer sei kulturell nichts los.
Nach der Anstrengung bin ich zu faul, den Arm zu heben, um neues Bier zu bestellen. Es ist aber auch heiß. Das leise Stöhnen der anderen Gäste schwillt zu einem Klagegesang – typisch: Ist mal zwei Tage schönes Wetter, fangen sie gleich wieder zu jammern an. Vorher haben sie gejammert, dass es ihnen nicht heiß genug ist. Immer wollen sie das, was sie gerade nicht haben: ist Krieg, wollen sie Frieden und ist Frieden, wollen sie Krieg. Oft möchte man die Leute an der Gurgel packen, sie hochheben und ihnen links und rechts eine schallern. Und noch mal und noch mal – vielleicht hilft auch das gegen Krebs.
ULI HANNEMANN