Alles 50 Prozent!

Von wegen Konsumflaute – die Deutschen wollen shoppen, marsch, marsch! Aber geizig geil soll es sein, damit man später mit dem Schnäppchen angeben kann. Auf der Suche nach den Motiven der Kundschaft bei einschlägigen Adressen im Fabrikverkauf

VON BERND MÜLLENDER

Im Familienverbund schleppen Schwiegermutter, Vater und dessen beiden kleinen Kinder zwei Kisten und drei große Tüten Süßkram weg. „Das ist so für gut 50 Euro“, sagt Oma Gertrud S.*, „das meiste werden Mitbringsel für Freunde“. Pralinen im Pfundpack haben sie gekauft, den Siebenerbeutel Schokoladentafeln und viele, viele Fioretto-Großpralinees. „Die große Tüte mit ein paar Dutzend drin für fünf Euro“, rechnet der Vater vor, „das zahle ich sonst fast für sechs Stück in der Geschenkpackung.“ Zum Direktverkauf bei den „Chocoladefabriken Lindt & Sprüngli GmbH“ im Aachener Industriegebiet kommt man nicht für supermarktübliche Kleineinheiten.

Die Kinder sagen nichts. Aber ihre Augen leuchten. Sie haben das Paradies gesehen.

Es ist ein unscheinbares Paradies. Das süße Schlaraffenland ist eine moderne hohe Fabrikhalle, sehr nüchtern, geschätzte 700 Quadratmeter. Die edle Ware steht in mausgrauen Kisten auf nüchternen Paletten. Die Preise sind tatsächlich frappierend günstig: Mindestens 30 Prozent, manchmal 50 billiger, einzelne Artikel, vor allem in Großmargen, noch mal deutlich mehr. Edle Lindt-Pralinen im 900-Grammbeutel gibt's für vier Euro. Und wer vier Beutel nimmt, kriegt noch einen dazu. Eine Frau sagt zu ihrem Mann: „Nein, die nicht auch noch. Ich muss nächste Woche zum Zahnarzt.“ Vor den Kassen stehen lange Schlangen.

Die Geschäftsführung schweigt

Die Lindt-Geschäftsführung möchte auf taz-Anfrage zu Umsätzen und Verkaufsphilosophie nichts sagen, um Streit mit Einzelhändlern der Region zu vermeiden. Und Werbung für ihren Fabrikverkauf, den es schon seit vielen Jahren gibt, hat die Firma nicht nötig. An der Kasse sagen fast alle: Ist doch etwas mehr geworden als gedacht. Eine Angestellte schleppt eine Riesentragetasche weg. MitarbeiterInnen erhalten noch mal 30 Prozent. „Das ist alles für Freunde, nicht für mich. Wir könnten ja den ganzen Tag bei der Arbeit davon naschen. Ich bin es leid.“ Das müsste sie mal den Kindern hier erzählen.

Die Deutschen seien Konsumverweigerer, heißt es, und Bremser der Konjunktur. Wer einen Moment bei Lindt an der Kasse steht, will das nicht glauben. Doch wenn Prozente satt locken, gibt es kein Halten. Wichtig ist, man kann anderen erzählen: „Du, 50 Prozent, 70 Prozent. Geheimtipp!“ Das ist die Jagdtrophäe des 3. Jahrtausends. Und dann erzählen sie den Geheimtipp.

Bent Rosinski, Geschäftsführer der Werbeagentur Matt & Jung, hat für Saturn den Slogan „Geiz ist geil“ entwickelt. „Die Leute“, sagt er, hätten durch seinen Geizspruch „gemerkt, dass es gesellschaftlich akzeptiert ist, als Besserverdiener zu Aldi zu gehen oder im Internet Preisvergleiche anzustellen. Die Deutschen sind sehr preisfixiert.“ Und so konnte im Land der Rabattkartensammler, knausrigen Sonderangebotskenner, SSVisten und Sparzwangfreunde der geile Geiz sich schnell etablieren und „mehr als die scheinbare Heroisierung der Todsünde sein“: nämlich „einen generellen Paradigmenwechsel im Einkaufsverhalten“ einleiten.

Ohne Preisgeiz geht immer weniger. Man kauft nicht, weil man etwas braucht, sondern wenn das hundertste Hemd gerade besonders billig ist. Markennamen sind wichtig, also der Schein des Besonderen, aber direkt um Qualität selbst geht es in Deutschland weniger als in anderen Ländern, wie Studien und Umfragen zeigen. Während Franzosen oder Belgier kilometerweit für eine köstlichere Kleinigkeit fahren, handelt der Deutsche eine Tiefkühlpackung Industriemampf lieber um zehn Prozent runter und ist nachher ganz stolz auf seine Cleverness.

Ein passendes Sonderphänomen ist eBay. Auch hier ist der (scheinbare) Schnäppchenaspekt oft wichtiger als die Ware selbst. Manchmal fasst man sich an den Kopf, welche Summen Menschen im Bieterrausch eingeben, obwohl sie das gleiche Produkt ohne Risiko, ohne Zahlungs- und Lieferumstand im Geschäft nebenan oder bei direkten Netz-Anbietern billiger bekämen.

Im Radio wirbt ein Küchenhaus, bei ihm „kommt kaufen fast billiger als klauen“. In der Werbung des Mediamarktes befiehlt ein Kind: „Kaufen marsch, marsch!“ Militärisch sind die Deutschen offenbar leicht ansprechbar. Lindt-Shopperin Britta R. weiß: „Eine Tafel Schokolade ist im Geschäft so teuer wie hier vier oder fünf. Der Unterschied: Hier isst man mehr.“ Und nimmt zu. Wir zählen auf, was das extra kostet: „Nerven, Diätpläne, Diätliteratur, Änderungsschneider oder gleich neue Blusen, Hosen und Röcke.“

Zum Fabrikverkauf für Kleidung könnte sie ins Outlet Center Maasmechelen Village nach Belgien fahren, gut 40 Kilometer hinter der Grenze. MV ist ein neues Retorten-Kaufdorf, weit draußen auf einem alten Zechengelände, 2002 eröffnet, mit einstraßiger Einkaufsviertelmeile aus kleinen, ein- bis zweistöckigen Häuschen. Putzig sieht es da aus: mit vielen Erkern, Türmchen, Spitzgiebeln und Markisen, mit Holz und Kratzputz. Jedes Haus ist anders, so wird Individualität vorgegaukelt.

Die Schilder an den Shops lesen sich wie ein Who’s who des gehobenen Markenkonsums: Hilfiger, Diesel, Villeroy & Boch, Samsonite, Versace, Leonardo. Benetton kommen im Erscheinungsbild einer bunt bemalten Kleinfabrik der vorletzten Jahrhundertwende daher. Zwei alte Fördertürme im Hintergrund geben dem Reißbrettgestern zusätzlich eine gemütlich-ältliche Kulisse. Und zwei ältere Damen aus Düsseldorf studieren gerade die karge Info-Broschüre. Sie wollen „erst nur mal gucken“. Im niederländischen Roermond waren sie neulich, 50 Kilometer entfernt, im citynahen Outlet Center, aber, sagt eine, „da hat es uns gar nicht gefallen, da war nur H & M und solche Sachen“.

Maasmechelen Village lockt mit intensiven Werbekampagnen im WDR und in den Lokalzeitungen. Und so sind die Besucher, siehe Autokennzeichen, ziemlich genau dreigeteilt: Holländer, Deutsche, Einheimische. Die deutschen Wagen kommen aus dem Ruhrgebiet, entlang aus der Rheinschiene, aus dem Aachener Grenzland. Kein Schnäppchenführer, der Maasmechelen nicht aufführte. „Carina“ hat auf der Online-Besuchssite auf die Zuschrift „Shoppen bis der Arzt kommt“ entschlossen geantwortet: „… und wenn er kommt, wird weitergeshoppt.“

Auch die Outlet-Preise hier sind meist 30 bis 50 Prozent unter dem „unverbindlichen Verkaufspreis“ im Einzelhandel. Die elegante beige Herrenlederjacke bei Marc O'Polo kostete angeblich mal 600 Euro, herunteretikettiert ist sie erst auf 380, dann auf 266. „Ein tolles Teil, aber sind immer noch über 500 Mark“, meint einer und hängt sie zurück. Daneben kauft eine Frau bei Villeroy & Boch für 29,50 Euro „das Überraschungspaket mit Teilen im Wert von 120 Euro“. Da, sagt sie, „hat man doch immer was auf Vorrat“. Sie ist strategische Schenkerin: „Man kennt doch sehr viele Leute mit sehr unterschiedlichen Geschmäckern.“ Das porzellanene Überraschungsei gebe es sonst, steht noch dran, „nur in Luxemburg“. Also ein doppelter Kaufanreiz: Billig und weiträumig exklusiv.

Shuttlebusse jede Viertelstunde

Es sind am Freitagnachmittag nicht gerade viele Flaneure unterwegs. Am Wochenende sei „deutlich mehr los, besonders sonntags“, sagt die Verkäuferin im leeren Schiessershop. Viele schlendern nur, bevölkern die Cafés. Im Untertitel heißt MV auch „Leisure Center“, also Muße-Zentrum. Auch an mindestens einem Sonntag monatlich ist das Village geöffnet. Das lockt extra. Da kann man wieder was erzählen: „Du, nicht wie bei uns nur Schaufenster gucken.“ Dann fahren auch die Shuttlebusse im 15-Minuten-Takt in die City.

Im Reebokshop kosten die Laufschuhe tatsächlich unter halbem Preis. Aber es gibt kein Laufband, keine Beratung – und so hebelt der wahre Smart Shopper die Fachgeschäfte doppelt aus: Er lässt sich daheim beraten, sucht aus und kauft das Produkt dann hier. Das ist dem Einzelhandel natürlich „ein Dorn im Auge“, sagt Fritz Rötting, Geschäftsführer der Aachener IHK. Sonst klagt er nur wenig: „Outlet Center sind dann kein Problem, wenn sie wirklich an den jeweiligen Produktionsort der Ware angegliedert sind.“ Und Maasmechelen sei „schon zu weit weg, als dass es nennenswerte Effekte hätte. Außerdem ist das Shoppingerlebnis da ja auch nicht so doll, anders als in Deutschland etwa bei Boss in Metzingen – das ist ja ein richtiger Wallfahrtsort.“

Umgetauscht wird nicht

An den Maasmechelener Schaufenstern fallen kleine Schilder auf: Verkauft werden ausschließlich Artikel der Vorsaison, heißt es da. Also ist das, was die Center-Broschüre umschmeichelnd „die Last-Season-Kollektionen verführerischer Marken“ nennt, eher ein Last-Minute-Ramschverkauf von Luxusladenhütern zu Händlerpreisen. Bei Tommy Hilfiger steht zudem: „Es wird nicht umgetauscht.“ Wäre eh zu weit.

Frank X. aus Neuss schleppt nachher doch noch einen Anzug mit italienischem Designeretikett weg: „Statt 400 Euro nur 229“, sagt er und fügt das putzige Argument hinzu, „so was“ trage er als Orthopäde zwar nur selten, „aber das hält lange, ich wachse ja nicht mehr.“ Es ist wie bei Olympia: Einmal dabei gewesen sein ist alles. Und ganz ohne was zurückfahren ist wie eine kleine Niederlage. Die beiden Düsseldorferinnen haben nachher wenigstens noch getankt, satte zehn Cent billiger der Liter Diesel. So lassen sich die Fahrtkosten für 280 Kilometer schönlügen.

Bei Lindt in Aachen war noch Klaus A. in seinem Siegburger BMW vorgefahren. „So für gut 200 Euro“ werde er kaufen. Bitte? „Ja, Schwiegermutter verwöhnen, Freunde in Bayern beglücken, Geschenke für alle Fälle und für zu Hause.“ Und er wird auch ein Süßwaren-Eichhörnchen mitnehmen: „Das wird im Keller eingelagert.“ Dabei ist 200 Euro selten der Tagesrekord. Die Kassiererin hatte gesagt, meist sei jemand mit rund 300 Euro am Tag dabei, manchmal noch deutlich mehr. Da kommt dann locker mehr als ein Zentner süßer Superschnapp zusammen.

* Alle Kundennamen geändert