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Archiv-Artikel

Im Angesicht der Windräder

Lidokino (9): Zwei Arten des Sterbens beim Filmfestival in Venedig: Michael Schorr lässt einen Bergmann aus Sachsen-Anhalt zur letzten Fahrt auf den Mississippi aufbrechen, und in Royston Tans „15“ sinnieren Teenager in Singapur über den Selbstmord

von CRISTINA NORD

Schultzes Welt hat enge Grenzen. Zwischen Vereinsheim, Schrebergarten und Kneipentisch herrscht Stillstand. Die Schranke am Bahnübergang bleibt geschlossen, in der Ferne drehen die Windräder, im Schatten der Abraumhalde werden die Gartenzwerge schmutzig, und die Reihenhäuser stehen dicht an dicht. Auf dem Akkordeon spielt Schultze seit vielen Jahren die Polka, wie es vor ihm schon sein Vater tat. Alles ist in den Fugen in Mansfeld, einer Bergbauregion in Sachsen-Anhalt. Zu ändern beginnt sich das erst, als Schultze, von Horst Krause wunderbar unterspielt, eine fremde Melodie im Radio aufschnappt. „Negermusik“, rufen die Vereinsmeier. Cajun wäre das richtige Wort.

Michael Schorr hat einen schönen Film zur Controcorrente-Reihe beigesteuert. „Schultze gets the Blues“ ist sorgfältig fotografiert. Die langen statischen Einstellungen gehen das Risiko ein, für eine Weile nichts als den Himmel und die Windräder zu zeigen. Bis der Schnitt kommt, hat man Zeit zu überlegen, ob sie sich mit dem Uhrzeigersinn oder dagegen drehen und was das jeweils für Schultzes Leben heißen könnte. Die Kamera bleibt vor Garagentoren stehen, um deren Symmetrie und Monotonie festzuhalten.

Man könnte einwenden, dass man das genau so schon bei dem östereichischen Regisseur Ulrich Seidl gesehen hat, aber sei’s drum. Es ist nämlich schön, Schorrs nonchalantem Blick auf die sachsen-anhaltische Landschaft zu folgen.

Es ist schön, Dialogen zuzuhören, die das Drehbuch von der Last der Erklärung befreit hat. Und es ist schön, dem dicken Schultze zuzugucken, wie mit der Südstaaten-Melodie etwas Neues in ihm wächst, wo doch sein Leben mit der Frühpensionierung, nach all den Jahren in der Grube, an einem toten Punkt angelangt zu sein scheint. Wenn Schultze im Radio etwas über die Lungenkrebsrate von Bergleuten hört, schaltet er das Gerät denn auch sehr schnell aus. Wer sein Leben lang unter der Erde gearbeitet hat, ist dem Tod vielleicht schon viel zu nah.

Später fährt Schultze den Mississippi stromabwärts und kann sich dabei auf die Güte von Fremden verlassen. Der Film verliert jetzt die Qualität, die er zuvor aus der Kenntnis des Schauplatzes bezog. Vielleicht hätte Schorr besser daran getan, nicht in Amerika zu drehen. Andererseits ist es schön, wenn er den Mississippi als Zwischenreich entwirft, auf dem Schultze, der dicke Kapitän im karierten Hemd, schippert, bevor er die Totenwelt erreichen wird.

In Singapur wartet der Tod nicht bis zur Frühpensionierung; er drängt sich schon den Teenagern auf. Die 15 Jahre alten Protagonisten aus Royston Tans erstem Langfilm „15“ (Settimana della critica) nehmen Hochhäuser in Augenschein, um dasjenige auszuwählen, von dem herunterzustürzen ihnen am sinnvollsten erscheint. Royston Tan lässt keinen Zweifel: Mit seinen harschen Gesetzen ist Singapur kein guter Ort für 15-Jährige.

Es ist schon erstaunlich, wie es asiatischen Filmen immer wieder gelingt, solchen Plots gegenüber weder eine zynische noch eine sentimentale Haltung zu entwicklen. „15“ produziert stattdessen einen solchen visuellen Überschuss, dass das Betrachterauge keinen Augenblick der Ruhe findet.

Die Bildwelten von Musikclip, Computerspiel, Comic und Tätowierung treiben wild durcheinander, die Schnittfrequenz ist hoch. Und auch wenn der juvenile Aufruhr dieser Drop-outs und das viele Testosteron, das sich der Film gespritzt zu haben scheint, auf Dauer nerven – letztlich stimmt es doch traurig, dass „15“ vermutlich einer jener Filme ist, die man nur auf Festivals zu Gesicht bekommt.