: Verwirrung im Gesundheitswesen
Die Modelle „Bürgerversicherung“ und „Kopfprämie“ scheinen sich auszuschließen. Aber plötzlich will Joschka Fischer beide Konzepte kombinieren – und er hat Recht
Joschka Fischer hatte sich schon eindeutig für eine „Bürgerversicherung“ ausgesprochen, die alle Bundesbürger in die gesetzliche Krankenversicherung einbezieht. Aber letzte Woche hat er – zunächst schwer verständlich – plötzlich Sympathie für eine Kombination der „Bürgerversicherung“ mit pauschalen „Gesundheitsprämien“ geäußert. Das erscheint wie ein Widerspruch. Auch die grüne Fraktionschefin Katrin Göring-Eckhardt hat sich in einem Interview für diese Kombination der vermeintlichen Gegensätze ausgesprochen. In der SPD-Fraktion wird dieselbe Idee von weniger prominenter Seite geäußert. Aber die Abgeordnete Erika Ober – neu im Bundestag – ist als Frauenärztin immerhin vom Fach.
Mit diesen Vorschlägen wird die Debatte um die Reform der Krankenversicherung für die Bürger immer unverständlicher. Das liegt aber nur daran, dass in der öffentlichen Diskussion die verschiedenen Ziele und Möglichkeiten der solidarischen Finanzierung des Gesundheitswesens nicht sorgfältig genug auseinander gehalten wurden.
Bei der angestrebten Strukturreform der Krankenversicherungen geht es erstens darum, die Beitragszahlungen vom Arbeitseinkommen abzukoppeln. Denn diese Kopplung vernichtet Arbeitsplätze. Gleichzeitig führt sie dazu, dass das öffentlich garantierte Gesundheitswesen immer weniger Geld zur Verfügung hat, wenn – im „Interesse der Arbeitsplätze“ – die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherungen gekürzt werden. Solidarisch ist das nicht.
Aber das Gesundheitswesen soll zweitens – zu Recht – weiterhin solidarisch wirken. Die Gesunden sollen zur Finanzierung der Kranken kräftig beitragen, und es soll eine Umverteilung von den Gutverdienenden und einkommensstarken Rentnern zu den Ärmeren erfolgen. Insbesondere junge Familien müssen unterstützt werden.
Es gibt zwei Möglichkeiten, wie man sich beiden Zielen nähern kann: Das Modell, das unter dem Namen „Bürgerversicherung“ bekannt geworden ist, hat der Gesundheitsökonom Karl Lauterbach in der Rürup-Kommission vertreten. Danach müssten sich alle in einer gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) versichern, wo sie gemäß ihres gesamten Einkommens mehr oder weniger viel einzahlen würden. Also auch Zinsen, Mieteinnahmen und ähnliche Erträge würden berücksichtigt. So würde die Kopplung mit dem Arbeitseinkommen schwächer – sie wäre aber nach wie vor vorhanden und würde arbeitsplatzfeindlich wirken. Durch die umfassende Versicherungspflicht würden die privaten Krankenversicherungen faktisch abgeschafft.
Bei dem Modell einer „Gesundheitsprämie“, das der Kommissionsvorsitzende Bert Rürup favorisiert, würde die Finanzierung der Krankenversicherungen radikal vom Arbeitsplatz und den Lohnnebenkosten abgekoppelt. Durch die pauschale „Kopfprämie“ würde freilich nach wie vor die Solidarität zwischen Gesunden und Kranken gewährleistet. Es gäbe auch keinen ständigen Druck, den Leistungskatalog zu verkleinern. Die Berücksichtigung der Einkommensunterschiede soll durch Steuerzuschüsse stattfinden.
Kompliziert wird die Diskussion nur deswegen, weil in der Rürup-Kommission die Frage sehr wichtig genommen wurde, wie man mit den privaten Krankenversicherungen (PKV) umgeht. Diese sichern gegenwärtig Gutverdienende und Beamte zu günstigen Prämien ab, weil diese Gruppen weniger krank sind als der Rest der Bevölkerung. Solidarität mit den gesetzlich Versicherten findet nicht statt. Das kann man zwar keinem ausländischen Wissenschaftler oder Politiker vernünftig erklären – so ein widersinniges System gibt es nirgendwo sonst auf der Welt. Aber es ist in Deutschland „historisch gewachsen“.
Die Befürworter der Gesundheitsprämie in der Rürup-Kommission wollen – zumindest mehrheitlich – die PKV als Sondersystem erhalten. Deswegen plädieren sie nicht dafür, dass die pauschale Gesundheitsprämie für die gesamte Wohnbevölkerung zur Pflicht wird, obwohl dies dem Modell entsprechen würde. Stattdessen wollen sie diese pauschale Gesundheitsprämie auf die jetzt in der GKV Versicherten beschränken. Nur deswegen kann Karl Lauterbach sein Alternativmodell – nämlich die Ausweitung der lohnbezogenen GKV auf die gesamte Bevölkerung – überhaupt als „Bürgerversicherung“ bezeichnen. Denn eigentlich unterscheiden sich die Grundideen der Pauschalprämie und der Bürgerversicherung gar nicht im Bezug auf die umfassende Solidargemeinschaft. Beide Konzepte differieren nur, wie für jeden einzelnen Bürger der Beitrag zur Krankenversicherung berechnet wird.
Die „Synthese“ der beiden scheinbar unversöhnlichen Modelle liegt auf der Hand. Joschka Fischer und andere haben dies offenbar erkannt: Eine „Bürgerprämie“ sollte eingeführt werden. Sie ist im Bericht der Rürup-Kommission auch skizziert – fand aber keine Mehrheit. Alle Bürger müssten ein „Standardpaket“ an Gesundheitsschutz kaufen und dafür eine pauschale Prämie zahlen. Diese „Bürgerprämie“ wäre aber keine Einheitsprämie, sondern jede Versicherung würde sie selbst berechnen. Der Satz würde danach variieren, ob eine Versicherung gut wirtschaftet oder überdurchschnittliche Qualität anbietet. Der Wettbewerb würde angeheizt, aber es wäre eine faire Konkurrenz, weil alle Versicherungen in einen Risikoausgleich einzahlen müssten. Es würde sich für eine Versicherung nicht lohnen, nur gesunde Versicherte anzulocken.
Die Bürgerprämie würde die PKV nicht abschaffen, sondern den privaten Versicherern sogar ein neues Betätigungsfeld bieten – wenn sie sich an die Regeln der Bürgerprämie halten. Aber Regeln sind nichts Neues für die PKV, die sich ohnehin in einem hoch regulierten Markt bewegt.
Eine pauschale Prämie verlangt jedoch sozialen Ausgleich, und bei seiner Gestaltung sollte mehr Fantasie entwickelt werden als bislang. Man kann auch sagen: Die Bürgerprämie kann nicht mit einer rein technokratischen Reform eingeführt werden. Sie muss zu einem gesellschaftspolitischen Projekt gemacht werden, damit sie sinnvoll ausgestaltet wird.
Man könnte sich zum Beispiel vorstellen, dass für den sozialen Ausgleich – wie in Frankreich – eine „Familienkasse“ geschaffen wird. In sie würde der Finanzminister einzahlen, aber auch die Arbeitgeber müssten eine Wertschöpfungsabgabe leisten. Das Finanzvolumen wäre gering, da ja nicht das gesamte Gesundheitssystem finanziert würde, sondern nur der soziale Ausgleich in Höhe von etwa 25 Milliarden Euro pro Jahr.
Dagegen wird nun immer wieder die Befürchtung geäußert, in Zeiten der Haushaltsnot könnte der Finanzminister einfach die Steuerzuschüsse für die Krankenkassen senken. Wenn jedoch Familien besonders begünstigt würden, dürfte sich jeder Finanzminister schwer tun, einer solchen Familienkasse weniger Geld zu überweisen. Der einzig gravierende Einwand gegen eine Pauschalprämie wäre ausgeräumt. GERT W. WAGNER