: Linke Träume
Modell Allende: Wie die Vision von der Selbstregierung einer Gesellschaft, die aus ihrer falschen Ruhe erwacht, mit der Sehnsucht der Bürger nachStabilität kollidiert
von ROBERT MISIK
Von den Sehnsüchten und Träumen, mit denen sich Salvador Allendes chilenisches Experiment verband, sind wir Lichtjahre entfernt. Die bange Frage, ob es einen demokratischen Weg „zum Sozialismus“, Arbeiter- und Basismacht ohne Bürgerkrieg geben kann, stellt heute niemand mehr. Doch auf verschobene Weise – die Differenzen sind mindestens ebenso signifikant wie die Analogien – ist dieses Experiment plötzlich wieder aktuell.
Mit dem Amtsantritt Luiz Ignacio da Silvas, genannt „Lula“, in Brasilien blitzte zu Beginn dieses Jahres eine Erinnerung auf: Der Wahlsieg des Linkssozialisten Lula war zweifellos die erste Regierungsübernahme in Lateinamerika, die mit Allendes Präsidentschaft vergleichbar ist. Nicht allein, was die Bedeutung für ihre Gesellschaften betrifft. Wie Allende wird Lula sofort als Modell gehandelt. Als Modell für eine aktivistische, partizipatorische Demokratie; als Test für die historischen Möglichkeiten; als faszinierende Versuchsanordnung, die die Frage beantworten soll, wie sehr es möglich ist, den geschichtlichen Moment zu öffnen.
Instruktiver noch als die Parallelen sind die signifikanten Differenzen: Sollte Allende die Probe auf die Möglichkeit des Übergangs zum Sozialismus liefern, wird vom Modell Lula vergleichsweise wenig erwartet – der charismatische Führer der Arbeiterpartei (PT) soll zeigen, dass Politik doch noch die Möglichkeit hat, ein paar Neben- und Seitenwege zu gehen, ohne gleich vom pluralistisch-marktwirtschaftlich-kapitalistischen Modell abzuweichen. Während Nixon Allende schon zu stürzen versuchte, bevor der überhaupt noch ins Amt eingeführt war, konferierten Lula und Bush unlängst gestoppte zwei Stunden und vierzig Minuten. Man habe sich blendend verstanden, ist zu hören. Und doch steckt Lula Allende in den Knochen. Geradezu demonstrativ hofiert er die internationalen Finanzinstitutionen, setzt den Stabilitätskurs fort, vermeidet alles, was die globalen und lokalen Eliten verschrecken könnte. Mit erstaunlichem Erfolg. Schon titeln internationale Blätter vom „Lula Suprise“. IWF-Chef Horst Köhler ist ganz angetan von ihm.
Allende scheiterte auch daran, dass er der Dynamik, die er lostrat, nicht mehr Herr zu werden vermochte, dass er vom linken Flügel seiner „Unidad Popular“, der seine Zögerlichkeit verachtete, ebenso getrieben war wie von den Arbeiter- und Landarbeiter-Aktivisten, die Ländereien besetzten, auf eigene Faust expropriierten, Fabriken nonchalant in Selbstverwaltung übernahmen, indem sie die Kapitalisten vor die Tür setzten. Lula hat daraus eine klare Konsequenz gezogen. Als Kabinettschef im Präsidentenpalast und zweitmächtigsten Mann im Staat installierte er José Dirceu, einen einst in Kuba zum Guerillero ausgebildeten Linksradikalen, dem von seiner bolschewistischen Entschlossenheit vor allem die Ruppigkeit geblieben ist, mit der er alle innerparteilichen linken Kritiker sofort mit Parteiausschlussverfahren überzieht – vor allem, wenn sie die radikale Landarbeitervereinigung zum Bodenbesetzen aufstacheln.
Wenn es diese Konsequenzen sind, die Lula aus der Erfahrung des Scheiterns Allendes zog, dann kann man dies achselzuckend darauf zurückführen, dass sich in den vergangenen dreißig Jahren eben auch die lateinamerikanische Welt verändert hat, dass in der Ära Lula völlig andere Bedingungen herrschen als in der Epoche Allende; gleichzeitig klingt aber auch die Frage an, inwieweit das Experiment Allende die Verantwortung für seinen negativen Ausgang selbst trägt; und – dies ist die vielleicht noch brisantere Frage – ob nicht gerade jene Umstände, die die Regierung der Unidad Popular zu einem faszinierenden Modell machten, das von der globalen Linken gefesselt verfolgt und dessen Erfolg ersehnt wurde, schließlich zum Untergang ebendieses Experiments beitrugen. Anders gesagt: dass gerade das, wovon die Linke träumt, das Scheitern dieser Träume bewirkt, sobald es auch nur in Ansätzen realisiert wird.
Allendes Regierung trat 1970 an, ohne die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich zu haben. Chiles ungewöhnliches Wahlsystem sorgte dafür, dass der Sozialistenführer mit 36,2 Prozent der Stimmen in den Präsidentenpalast einzog. Doch auch nach dem Wahlerfolg von 1973, der der „Unidad Popular“ die Höchstmarke von knapp 44 Prozent brachte, stand die Regierung immer noch einer Opposition mit beinahe 56 Prozent gegenüber. Gleichzeitig gab es nicht nur weitreichende Eingriffe ins Wirtschaftsleben – via Nationalisierungen beispielsweise –, sondern wurde auch auf einen Linkskeynesianismus umgeschwenkt, der zuerst die Nachfrage aufheizte, in der Folge aber die Inflation befeuerte; das Land geriet in „Bewegung“, stand unter revolutionärem „Strom“. Stadtteilkomitees öffneten auf eigene Faust die Läden jener Krämer, die Waren horteten, übernahmen die Fabriken in Eigenregie, deren Management die Produktion drosselte etc.
Sehen wir einmal von der kriminellen Energie ab, mit der die USA das Land drei Jahre lang destabilisierten. Dann ist erstens wahr: dass man davon nicht absehen kann. Aber zweitens doch auch: dass die Bewegung, in die das Land geraten war, einen Minibürgerkrieg in den Kapilaren und an den Rändern der Gesellschaft provozierte – und als Antwort darauf auch eine populistische Revolte von rechts, die durch den Umstand begünstigt war, dass die Mehrheit selbst in den besten Zeiten der Unidad Popular auf Seiten der Rechten stand. Chile ist so gesehen auch eine Studie über den Konservativismus in dem Augenblick, in dem dieser sich bedroht fühlt – und zwar eines Konservativismus nicht nur in einem eminent politischen, sondern auch in einem weiteren, kulturellen Sinn. Nicht nur die Upper-Class-Damen gingen mit ihren leeren Kochtöpfen und ihren Dienstmädchen auf die Straße, um gegen Versorgungsengpässe zu protestieren (die für die Unterklassen seit Jahrzehnten Alltag waren), auch die unteren Mittelschichten fühlten sich in ihren Stabilitätswünschen bedroht.
Der ewig linke Traum ist der von der demokratischen Selbstermächtigung der Menschen und von einer Gesellschaft, die aus ihrer falschen Ruhe erwacht. Dies ist es, was Sozialisten rund um den Erdball an Salvador Allendes Experiment faszinierte – Arbeitermacht ohne Terror, Sowjets ohne Tscheka. Oder zumindest ohne organisierten Terror, denn zupackende Exempel „der Volksrechte an verhassten Individuen“, von denen Marx schon in den höchsten Tönen sang, bewiesen ja gerade, dass das Volk selbst seine Sache in die Hand nahm. Die Arbeiter- und Stadtteilkomitees, die Landreformer von unten, sie waren – vor allem aus der Ferne betrachtet – die Probe auf eine Sozialismuskonzeption der aktivistischen Selbstregierung.
Der Proletarier an der Macht war als eine Gestalt imaginiert, die nicht zur Ruhe kam. Als bisher nicht gesehener Typus, der nach vollbrachtem Tagwerk im Rat oder Komitee regiert – sich, seine Kommune, den Staat. Und der sich selbst neu erfindet, sich in einer Revolution dieser Art „den ganzen alten Dreck vom Halse“ (Karl Marx) schafft, neue „radikale Bedürfnisse“ entwickelt, die Welt und das Leben ändert.
Darin steckt eine Romantik des „Immer-in-Bewegung“ und erklärt auch die Anziehungskraft recht blutiger Ideen, wenn die nur einen Wirbelwind an Transformation versprechen, von Trotzkis „permanenter Revolution“ bis zu Maos Postulat aus der Kulturrevolution, wonach es nötig ist, alle paar Jahre „das Feuer neu zu entfachen“. Und all das sollte in Chile bewiesen werden: dass, wenn nur ein wirklicher Wind of Change blase, Lenins sprichwörtliche Köchin fähig ist, die Staatsgeschäfte zu führen. Welch Blütenträume wurden da gesponnen! Von radikal verkürzter Arbeitszeit infolge sozialistisch entfesselter Produktivkräfte, die den Freiraum eröffnen würde für einen allumfassenden Aktivismus des produzierenden Subjekts.
Es ist eine stetige Kränkung dieser Aspirationen, dass nicht nur die Angehörigen der herrschenden Klassen die Krägen hochschlagen, wenn der Sturm zu stark weht, sondern auch die einfachen Leute die Köpfe einziehen, und dass die Köchinnen womöglich gar nicht so sehr darauf erpicht sind, im Staat umzurühren, und ihre Abende nicht im Sowjet oder im Stadtteilkomitee verbringen wollen. Dass sie, selbst wenn sie radikale Änderungen ersehnen sollten, ebenso viel Wert auf eine gewisse Berechenbarkeit in ihrem Leben legen und, ganz abgesehen davon, sehr schnell ins Lager der Konservativen oder zumindest in einen Zustand der Indifferenz treiben, sobald die produktive Unruhe negative materielle Konsequenzen zeitigt.
Wäre dem anders, dann fände die Propaganda der Rechten keinen fruchtbaren Boden – in Chile nicht und anderswo auch nicht. Gewiss, dieses Sicherheitsbedürfnis ist selbst ein Gefühl mit Geschichte, es ist historisch-gesellschaftlich bestimmt und damit veränderbar, aber doch ganz offensichtlich beharrlich genug, um regelmäßig zwei negative Resultate zu zeitigen: entweder das Erstarken des konterrevolutionären Ressentiments gegen die Revolution – oder die diktatorische Erstarrung der Revolution.
Als Pinochet in Chile nach der Macht griff, stieß seine Putschistenarmee kaum mehr auf Widerstand. Die Demoralisierung hatte schleichend schon eingesetzt, bevor sich die Generäle zum Umsturz entschieden hatten. Der Traum war womöglich schon gestorben, als der General mit der dunklen Brille dazu ausholte, ihn zu ermorden.
ROBERT MISIK, 37, lebt und schreibt in Wien, unter anderem für die taz. Jüngste Buchveröffentlichung: „Marx für Eilige“, Aufbau Verlag