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Archiv-Artikel

Wo Hugo noch ein held ist

AUS CARACAS INGO MALCHER

Im fernseher läuft der fernseher – und dort schauen sie nachrichten. Über den bildschirm marschieren hunderte getreue von präsident Hugo Chávez. Alle tragen rote t-shirts und sehen sich damit irgendwie ähnlich. Im chor skandieren sie: „Uh! ah! Chávez wird nicht gehen!“ Nora sitzt in ihrem wohnzimmer und schüttelt angewidert den kopf. Plötzlich springt sie vom stuhl, die augen weit aufgerissen, verharrt wie schockgefrostet und kreischt zu ihrem sohn: „Schau, dein vater!“ Doch da ist er schon aus dem bild verschwunden.

War er es wirklich? Ignazio? Ein chavist? Wo sie sich doch nichts inniger wünscht, als dass der präsident endlich gestürzt würde. Als Ignazio nach hause kommt, leugnet er alles. Er war bei einem freund. Nicht bei einer demonstration. Nora aber forscht nach, bittet beim sender um die aufnahmen. War er es? Im nächsten kapitel wird sie es erfahren. Fortsetzung folgt.

„Ich spiele mit realen situationen“, sagt Román Chalbaud. Der regisseur sitzt zwischen zwei lastwagen am filmset in der Linea-straße von Caracas und schaut auf sein skript. Er ist einer der renomiertesten filmemacher Venezuelas und versucht sich derzeit im genre der telenovela. Doch seine seifenoper „Amores de barrio adentro“ ist mehr als das. „Es ist ein politisches instrument, das die dinge erzählt, die zurzeit in Venezuela passieren“, sagt er.

Polarisiertes land

Nora und Ignazio gibt es nicht wirklich. Aber es könnte sie geben. Venezuela ist vor dem amtsenthebungsreferendum gegen staatschef Chávez kommenden sonntag gespalten: anhänger und gegner des präsidenten bekriegen sich bitterlich. Das land ist polarisiert, die stimmung aufgepeitscht.

Die gegner von Chávez werfen dem selbstverliebten präsidenten vor, aus Venezuela ein zweites Kuba machen zu wollen und das land stetig in den wirtschaftlichen ruin zu treiben. Venezuela ist der fünftgrößte erdölexporteur der welt, und weil Chávez nicht müde wird, US-Präsident George W. Bush damit zu drohen, ihm den ölhahn zuzudrehen, fürchtet die opposition die internationale isolation Venezuelas. Daher sammelten die Chávez-gegner 2,4 millionen unterschriften und erzwangen ein amtsenthebungsverfahren.

Und dessen ergebnis will Chalbaud beeinflussen. „Meine miniserie ist eine pro-Chávez-novela, ein politisches lehrstück, wenn man so will“, sagt er. Doch die wirkliche schlacht im kampf um Chávez wird in den armenvierteln geschlagen, wo die überwiegende mehrheit der venezolaner lebt. Jeder fünfte in Venezuela ist arbeitslos, jeder zweite unterbeschäftigt. Und Chávez hat ihnen allen eine „revolution“ versprochen.

In Ciudadela, einem viertel im osten von Caracas, kommt Chavez’ revolution in form eines zahnarztstuhls und sieben aufsätzen für den bohrer, der in einer so hohen tonlage pfeifft, dass man am liebsten gleich die dritten zähne verlangen möchte. Filberto García steht vor dem behandlungsstuhl in dem grüngefließten raum ohne fenster. Er trägt einen weißen kittel und die grauen haare kurz geschnitten. García gehört zu einem kontingent kubanischer ärzte, die in den venezolanischen armenvierteln bruderhilfe üben und kostenlos patienten behandeln.

Die instrumente dafür haben sie gleich mitgebracht: zahnarztstühle, brillengestelle, skalpelle und pinzetten. 25 leute behandelt er am tag, wem die backe schmerzt, der darf auch nachts anklopfen. García kam wie seine kollegen zwar auf Castros geheiß, aber freiwillig nach Venezuela. Seit drei monaten ist er schon da, zwei jahre wird er insgesamt bleiben. „Wir sind hier, um diesem land zu helfen“, sagt er, „hierher kommen doch keine venezolanischen ärzte.“ Ciudadela liegt im verarmten westen der hauptstadt Caracas. Von der metro-endstation Pro-Patria ist es zu fuß noch eine gute halbe stunde. Ciudadela ist ein enges viertel, in dem 14-stöckige hochhäuser nebeneinander stehen. Triste, traurige plattenbauten, an deren fassaden die dunkelgrüne farbe blättert. Aus den fenstern hängt wäsche zum trocknen und hinter vielen fenstern das plakat der Chávez-anhänger: „NEIN!“ – zur abwahl des präsidenten.

Die krankenstation von Ciudadela ist in einer von Chavez’ missionen untergebracht. Das gelände ist so groß wie zehn fußballfelder, mehrere hallen und baracken stehen dort. Von einer anhöhe blicken die hochhäuser des viertels auf den hof der mission. Es gibt viele wandmalereien: der argentinische guerillero Ernesto „Che“ Guevara, ölbohrtürme im sonnenuntergang, bunte dorfszenen, rote sterne. Vorher standen die baracken leer, sie gehören dem wohnungsbauministerium. Die mission hat das leben in dem viertel verändert.

Es gibt dort jetzt sogar einen supermarkt. „Mercal“ steht in roten lettern über dem eingang. In den regalen liegen abgepackte nudeln, linsen und bohnen, milchpulver in dosen und frische eier. „Besonders gut ist die bondiola“, sagt Iriana Gonzalez, „die kommt aus Brasilien, das fleisch aus Venezuela oder Argentinien.“ Iriana Gonzalez ist die verwalterin des ladens. Sie ist etwas dick, trägt rote hose und rotes hemd und hat in die dunklen haare einen leichten rotstich eingefärbt.

Politische nudeln

Die „Mercal“-ketten sind eine erfindung von Chávez. Die läden gehören dem staat und werden von ihm subventioniert. So können die bewohner von Ciudadela preiswert einkaufen. Die gelernte buchhalterin gonzalez rechnet vor: „Nudeln kosten normal 1.900 Bolívares (70 Cent), hier kosten sie 1.100 (40 Cent), das Fleisch kostet beim straßenmetzger 12.000 (4,60 Euro) pro kilo, hier 7.000 (2,70 Euro).“ Für den staat trotzdem kein verlustgeschäft, beteuert Gonzalez. „Die regierung verdient, aber die marge ist sehr gering.“

Bei solchen preisen scheint es auch kaum jemanden zu stören, dass auf die nudelpakete regierungscomics gedruckt wurden: „Bolívarische verfassung, artikel 58: Die kommunikationsmedien sind frei und pluralistisch und halten sich an die pflichten und verantwortungen, die das gesetz vorschreibt.“ Darunter steht: „Wenn das volk sie braucht, ist seine revolutionäre regierung zur stelle.“ Nie war nudeln kochen politischer.

Sicher sind die missionen zentren der politischen doktrinierung. Aber eben nicht nur. Norma Chividate, 53, sitzt auf einem klapprigen stuhl ein einer zur aula umgewandelten autowerkstatt. Im boden steckt noch ein teil der hebebühne, an der wand hängt eine tafel für filzschreiber. Chividate besucht die nachmittagsklasse der agrarschule. Sie lernt dort, wie man zwischen den hochhäusern hühner mästet, wie man ein gemüsebeet bestellt und wie man richtig kalkuliert.

Chividate hat zwei töchter und hat die familie zuvor mit schneiderarbeiten über wasser gehalten – mehr schlecht als recht. Gerade einmal 350.000 Bolívar hat sie damit im monat gemacht, rund 135 Euro. Für die nachmittagsschule überweist ihr die regierung ein stipendium von umgerechnet knapp 70 Euro monatlich. Sie hofft, später einmal ihr neues wissen zu geld machen zu können. „In einer kooperative“, sagt sie.

Chividate ist eine kleine und energische frau mit freundlichen augen. Sie behauptet, es sei zufall, dass sie an diesem tag ein rotes t-shirt trage, die farbe von Chavez’ bewegung. Doch über den präsidenten sagt sie: „Es ist, als würden wir neu geboren, wir existieren auf einmal für eine regierung.“ Deshalb ist es für sie keine frage, wo sie am sonntag bei der elektronischen wahlmaschine drücken wird. Wenn das wort „opposition“ fällt, redet sich Chividate in fahrt: „Die gegner von Chávez haben das land 40 jahre lang regiert, wer arm ist, der ist für sie arm, nie wollten sie, dass wir die gleichen rechte wie sie haben, wir sind für sie indios, müllkutscher, lügner und ignoranten, sie dürfen nicht zurück an die regierung kommen, sie wollen alles nur für sich selbst.“

Chávez hingegen versuche den reichtum des landes umzuverteilen. Geld genug ist da, dank des vielen öls. Trotzdem leben 87 prozent der bevölkerung in armut, 80 prozent ohne ärztliche versorgung, 65 prozent der venezolaner haben nicht einmal die grundschule abgeschlossen. Hier setzt Chávez mit seinen missionen an. Ein teil des gewinns der staatlichen erdölfirma PDVSA fließt in einen sozialfonds, mit dem er die missionen in den stadtteilen finanziert. Seine gegner nennen das stimmenkauf für das referendum.

Juan Bareto nennt das „soziale gerechtigkeit“. Bareto ist ein alter kampfgefährte von Chávez. Er war in den 80er-jahren studentenaktivist an der universität von Caracas und lernte den oberstleutnant der fallschirmspringer Hugo Chávez kennen, als dieser sich einem kreis von politischen offizieren anschloss. Auch als Chávez zusammen mit anderen rebellierenden offizieren im jahr 1992 versuchte, den damaligen präsidenten Carlos Andrés Pérez zu stürzen, hielt Bareto zu ihm. Bei dem putsch kamen 19 menschen ums leben, Chávez wurde verhaftet – aber berühmt.

Passende weine

Bareto sitzt an einem eingedeckten tisch mit roter decke im Ateneo von Caracas, einem kulturzentrum. Am eingang hängen die roten „nein“-plakate wie sie in der ganzen stadt kleben. Doch an diesem abend kommen die Chávez-anhänger nicht in ihren roten t-shirts, sondern in anzug und krawatte. 500.000 Bolívares, also etwa 192 Euro, kostet der eintritt zum fund-raising-dinner für den wahlkampfendspurt. Als gegenleistung gibt es karottencreme mit ingwer, steak mit avocado und zum nachtisch einen merenge. Für jeden gang steht der passende wein parat.

Bareto ist parlamentsabgeordneter und kandidat für das amt des oberbürgermeisters von Caracas, weshalb ihn alle an diesem abend mit „herr bürgermeister“ grüßen. Bareto trägt eine rechteckige brille und ist sehr dick. „Deshalb kann ich nur oberbürgermeister werden“, witzelt er, „alle anderen büros wären für mich zu klein.“

Als Chávez im jahre 1994 aus dem gefängnis kam, fuhr er mit Bareto in einem alten VW durch das land, um eine neue politische organisation aufzubauen. Sie übernachteten bei freunden, sammelten für das benzingeld und versteckten sich vor der polizei, die ihnen nachstellte. Nur vier jahre später war Chávez neuer präsident von Venezuela. Für die von ihm 2001 zur volksabstimmung vorgelegte verfassung stimmten 72,8 prozent. „Wir werden sehen, ob tiefe veränderungen in Lateinamerika möglich sind“, sagt Bareto. Dann macht er eine bedeutungsvolle pause, greifft zum wein, nippt am glas, stellt es langsam zurück auf den rot gedeckten tisch und sagt dann: „Ich glaube, das geht.“