: Gastfreundin auf Kaperfahrt
Die norwegische Reporterin Åsne Seierstad machte aus dem Alltag einer afghanischen Familie einen Bestseller und sich zum Medienstar. Doch nun klagt der „Buchhändler aus Kabul“ über Lügen und fürchtet um den Ruf und die Sicherheit seiner Familie
von REINHARD WOLFF
Eine Journalistin reist nach Afghanistan, berichtet über den dortigen Krieg, lernt einen Buchhändler kennen, in dessen Haus sie mehrere Monate wohnt. Sie schreibt Reportagen über diesen „Buchhändler aus Kabul“ und veröffentlicht ein gleichnamiges Buch (in Deutsch bei Claassen). Nachdem das Werk in 17 Ländern erschien, von Le Monde (Paris) bis Sunday Times (London) gelobt und eine halbe Million Mal verkauft wurde, bekommt auch die Hauptperson ein Exemplar in die Hand. Er erkennt sich nicht wieder, fühlt sich und seine Familie verleumdet, fürchtet um deren Ruf und Leben und kündigt nun rechtliche Schritte an.
Die Norwegerin Åsne Seierstad stieg zum Star an Skandinaviens Medienhimmel auf. Ihre Berichte erst aus Tschetschenien und dem Kosovo, dann über den Afghanistankrieg und zuletzt aus Bagdad, das sie als einzige TV-Journalistin Nordeuropas zu Kriegsbeginn nicht verließ, machten sie prominent.
Die 33-Jährige wurde mit Medienpreisen förmlich überschüttet. Für ihre Kosovo-Berichte wurde sie zur „besten TV-Journalistin“ gekürt, für ihre Irakreportagen erhielt sie in Norwegen wie Schweden die höchste publizistische Auszeichnung.
Nach Afghanistan brach sie direkt nach dem 11. September auf, knüpfte persönliche Kontakte, schlief wochenlang in den Schützengräben der Nordallianz, bewegte sich als einheimische Frau verschleiert relativ frei.
In Kabul hatte Seierstad im Laden des Buchhändlers Schah Mohammad, der trotz geänderten Namens leicht zu identifizieren ist und wegen seiner besonderen Geschichte auch schon in der taz (9. 3. 2002) porträtiert wurde, oft nach Büchern gesucht. Irgendwann wurde sie zum Essen eingeladen. „Das ist Afghanistan, dachte ich, als ich da saß. Das, was sich in dieser Familie abspielt.“ Sie ließ sich einladen, nach Kriegsende zu bleiben. Vier Monate wurden daraus. Sie schlief auf einer Matratze neben Leila, der Schwester des Buchhändlers. Begleitete die Familie in ihrem Alltag. Den Buchhändler auf Geschäftsreise, einen Sohn auf Pilgerfahrt, Leila bei heimlicher Jobsuche. „Ich fühlte, dass dies eine wichtige Sache wird, man eine Geschichte über Afghanistan berichten könnte.“
Die schrieb sie dann auch über die Familie, die Rollenverteilung in Heim und Gesellschaft, die Stellung der Frauen nach dem Sturz der Taliban und zeichnete ein von vielen Rezensenten speziell hervorgehobenes, sehr kritisches Bild des Familienoberhaupts. Sie schildert die Angst der Familienmitglieder vor diesem einerseits liberalen und weltgewandten Buchhändler, andererseits engstirnigen, diktatorischen, ja gewalttätigen Despoten, berichtet intime Einzelheiten über die Verheiratung seiner Schwester, sexuellen Missbrauch von Mädchen innerhalb des Familienclans, heimliche Freundinnen des Sohnes und eheliche Untreue.
Schockiert äußerte sich der norwegisch-irakische Schriftsteller Walid al-Kubaisi schon vor Monaten in einer Rezension. Seierstad habe alle Grenzen journalistischer Ethik überschritten, einen groben Übergriff an dem Privatleben ihrer Gastgeber begangen, mit westlichem Unverständnis in deren Intimleben herumgeschnüffelt. Er forderte die Journalistin schon damals auf, das Buch vom Markt zu nehmen und sich bei der Familie zu entschuldigen. „Es wundert mich daher nicht, wie jetzt der Buchhändler reagiert, nachdem ihm klar wurde, was im Buch steht“, erklärte er dem Osloer Dagbladet: „Åsne hat für die Familie eine Katastrophe heraufbeschworen. Es ist jetzt möglich, dass die Töchter keine Ehemänner mehr finden und niemand seine Töchter an die Söhne dieser Familie verheiraten will.“
Al-Kubaisi erklärt die Wirkung des Buches, sie sei so, als ob ein afghanischer Journalist bei einer stadtbekannten Familie in einem Osloer Villenvorort leben dürfte und diese dann in einer Reportage leicht identifizierbar charakterisierte als Mann, der sich Prostituierte kauft, als Frau, die einen Liebhaber hat, als Sohn, der Drogen nimmt und als Tochter mit mehrfachen Selbstmordversuchen. Und all dies ungefragt und ohne Wissen der Gastgeber.
Seierstad hatte Schah Mohammad das Buch vor der Veröffentlichung nicht gezeigt. Ihm und seiner Familie sei von Seierstad vorgegaukelt worden, sie wolle ein Buch über die Kultur des Landes schreiben. Wie eine Tochter habe er sie aufgenommen, nun „hasse“ er sie wegen dieser „Sammlung von Lügen“. Er könne wegen ihr alles verlieren, erklärte er der Osloer Tageszeitung VG, „meinen Ruf, meine Arbeit, mein Haus“. Öffentlich über Liebhaber seiner Schwester zu berichten sei in Afghanistan nicht nur äußerst schambeladen, sondern könne auch zu Scheidung oder gar Tod führen.
Im norwegischen Fernsehen sagte Seierstad, Mohammad verlange von ihr, „eine neue Version“ zu schreiben – gemeinsam mit ihm: „Ich stehe zu dem, was ich geschrieben habe.“ Das Buch, das Mohammad gefalle, könne sie sich denken: Die leuchtende Biografie eines Helden.
Intime Schilderungen des Familienlebens gebe es auch aus der Feder muslimischer Verfasser, sagt der schwedische Islamforscher und Professor der Universität Lund, Jan Hjärpe: „Aber nur als Belletristik. Problematisch ist hier die Form eines Reportagebuchs, das behauptet, ein richtiges Vorbild zu haben.“ Werde der Text in Afghanistan allgemein bekannt, dann könne das für die Familie „sehr unangenehm werden“.
Thorvald Steen, Verfasser und früherer Vorsitzender des norwegischen Schriftstellerverbands, hält auch die dokumentarische Form eines solchen Themas für „fragwürdig“. Jan Guillou, Vorsitzender des schwedischen Journalistenverbands, nimmt Seierstad nicht ab, dass sie ausgerechnet in dieser Familie so perfekt all die passenden Elemente für ihre Darstellung afghanischer Familienstrukturen gefunden haben sollte: Die Phantasien einer westlichen Frau seien in Journalismus verpackt worden, ohne einen Gedanken an die „Hölle“ zu verschwenden, in der die Familie dadurch landen könnte: „Ein ganz grober Verstoß gegen die Presseethik.“