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Archiv-Artikel

Der Boom bleibt aus

Athens Hoffnung auf einen Tourismusaufschwung durch Olympia wird sich nicht erfüllen

Athen hat trotz Akropolis und vorzüglicher Museen wenig an urbaner Qualität zu bietenDie Übertragung des Marathonlaufs wird wie ein sozialkritischer Dokumentarfilm anmuten

AUS ATHEN NIELS KADRITZKE

Jacques Rogge tut alles, um den Gastgebern Mut zu machen. Athen hat seine Hausaufgaben erledigt und es werden „magische Spiele“, befand der IOC-Präsident eine Woche vor Beginn der Olympischen Sommerspiele. Es klang eher wie ein beschwörendes „Alles wird gut“ mit Handauflegen. Denn nachdem die Griechen dank magischer Improvisationskünsten die Sportstätten in letzter Stunde an das IOC übergeben konnten – in vielen Fällen freilich ohne Testwettbewerbe – warten sie auf ein zweites Wunder. Von den Olympiatickets ist erst knapp die Hälfte verkauft. Vor allem der Rücklauf von vorbestellten Karten aus dem Ausland bedeutet, dass von 5,3 Millionen Tickets rund 2,7 Millionen noch zu haben sind. Und aus dem Athener Organisationskomitee (Athoc) ist zu hören, man wäre schon zufrieden, wenn man 65 Prozent der Eintrittskarten absetzen könnte. Vor vier Jahren in Sydney waren es immerhin 80 Prozent.

Wie also die Tribünen füllen? Die nahe liegende Lösung entfällt, denn die Schulklassen sind in Ferien, und ein Großteil der griechischen Armee ist mit olympischen Sicherheitsaufgaben betraut. Jetzt kann Premier Karamanlis nur noch an den Patriotismus der Hellenen appellieren: Die mögen sich das einmalige Erlebnis olympischer Spiele im eigenen Lande nicht entgehen lassen. Ob das hilft, wird sich zeigen. In Athen hofft man auf einen Nachbrennereffekt, der die Euphorie über den Erfolg der griechischen Fußballeuropameister in olympische Begeisterung verwandelt. Aber wer die sportliche Mentalität des Landes kennt, muss eher befürchten, dass die Gastgeber sich nur für Wettbewerbe erwärmen, in denen olympische Medaillen winken. Und das sind nicht allzu viele.

Die Sorge um die Auslastung der Tribünen verweist auf ein Problem, das mit patriotischer Pflichterfüllung nicht zu lösen ist. Die Olympiatouristen bleiben weg. Und nicht nur das. Die ganze touristische Saison scheint gefährdet. Die Zahl der Griechenlandurlauber ist im ersten Halbjahr 2004 im Vergleich mit 2003 um 12 bis 15 Prozent zurückgegangen. Zwar hofft man, den Schwund in der Jahresbilanz noch halbieren zu können. Aber schon steht für die Experten fest: Der Tourismus ist nicht trotz, sondern auch wegen der Olympiade eingebrochen.

Auf keinen Fall haben die Athener Spiele den olympischen Boom ausgelöst, den man vor Jahren allzu optimistisch erwartet hatte. Die Hoteliers im Raum Attika wollten in den olympischen Wochen täglich bis zu 150.000 Betten verkaufen. Tatsächlich werden es 30 bis 50.000 weniger sein. Und selbst bei den fest gebuchten Luxusunterkünften – in den großen Athener Hotels oder auf den Kreuzfahrtschiffen, die im Hafen von Piräus liegen – treffen in letzter Stunde Absagen ein. In diesem teuren Marktsegment könnten bis zu 3.000 bestellte Betten leer bleiben, vor allem die von Sponsorenfirmen reservierten. Denn diese haben offensichtlich Mühe, ihre Klientel für die Olympischen Spiele zu interessieren.

Warum das so ist, weiß die Athener Zeitung Kathimerini zu berichten: Viele Firmen haben für ihre VIP-Gäste pro Tag nur ein olympisches Event organisiert. Sie mussten davon ausgehen, dass die Athenbesucher angesichts der Verkehrsprobleme und der massiven Sicherheitsmaßnahmen schwerlich zwei Wettbewerbe am selben Tag mitnehmen können. Nur ein Event pro Tag ist aber vielen der Olympia-VIPs offenbar doch zu wenig.

Dies zeigt, warum das Produkt Olympia 2004 so schwer zu vermarkten ist. Viele Interessenten wurden durch die – weitgehend selbst verschuldeten – vorolympischen Meldungen über bauliche Verzögerungen und zeitraubende Personenkontrollen abgeschreckt. Das gilt auch für die normalen Olympiatouristen, die nicht zur weit verzweigten IOC-Familie und ihrer politischen Entourage zählen, die also ihren Aufenthalt in Athen aus der eigenen Tasche bezahlen. Dass sich diese Gäste ebenfalls rar machen, hat allerdings auch mit der strukturellen Krise des griechischen Fremdenverkehrs zu tun, die seit Jahren beklagt und diskutiert wird. Aber getan wurde nichts, weil man hoffte, das Olympiajahr werde schon die Wende bringen. Doch nun droht 2004 aus der schwelenden Tourismuskrise ein Flächenbrand zu werden. Ein Kommentator der Athener Zeitung To Vima spricht die bittere Wahrheit aus: „Antike Stätten, Meer und traditionelles Essen gibt es auch anderswo, und warum sollte jemand ein überteuertes Land und eine Festung besuchen, die von der Nato und 80.000 bewaffneten Kräften bewacht wird, wenn man die Spiele am Fernseher eines türkischen Hotels gegenüber von Rhodos verfolgen kann?“

Es ist kein Zufall, dass gerade in diesem Sommer die Türkei bei den Feriengästen einen Zuwachs von 40 bis 50 Prozent verbuchen kann. Zwar ist die „olympische Teuerung“ eine marktwirtschaftliche Erscheinung, mit der alle Veranstalter der Spiele leben mussten. Doch in Griechenland wirkt sie besonders fatal. Für die meisten ausländischen Touristen ist das Land in den letzten fünf Jahren so teuer geworden, dass viele auf billigere Reiseländer umgestiegen sind. Zudem trug die Preisgestaltung der Athener Hotels zur Abschreckung bei. „Die Preise, die uns die Hotels im Winter gemeldet haben, waren einfach zu hoch“, klagen Athener Reiseveranstalter. Und ihr Verbandspräsident stellt fest: „Einige Hotels haben ihre Preise zu stark erhöht und daraufhin überhaupt keine Klienten gefunden. Das geschieht ihnen recht.“ Viele Athener Mittelklasse-Hotels mussten kurz vor Beginn der Spiele ihre Preise von rund 350 auf 150 Euro senken. Die Anpassung an die Nachfrage kommt allerdings zu spät, denn nur wenige ausländische Olympiafans können kurzfristig noch ihren Urlaub umbuchen.

Selbst wenn man in Athen in letzter Stunde noch ein erschwingliches Hotel findet, bleibt die Stadt ein teures Pflaster. Allein seit Sommer 2003 ist die griechische Hauptstadt in der Tabelle der teuersten Großstädte der Welt um 21 Plätze nach oben geklettert. Heute liegt sie knapp hinter München und Prag, aber klar vor Brüssel und Madrid auf Platz 30. Im Vergleich mit diesen Städten hat Athen jedoch – trotz der Akropolis und einiger vorzüglicher, nicht nur archäologischer Museen – weit weniger an touristischen Attraktionen und urbaner Qualität zu bieten. Im Zentrum erinnert außer einem knappes Dutzend klassizistischer Gebäude nichts daran, dass Athen vor hundert Jahren noch die Aura einer Residenzstadt hatte. Was dem olympischen Gast heute zuerst auffällt, sind die Gebäudefassaden, die mit bedruckten Stoffbahnen zugehängt sind.

Deshalb war die große Hoffnung, über die Olympischen Spiele zum attraktiven Ziel für den profitablen, weil ganzjährigen Städtetourismus zu werden, schon immer verfehlt. Das große Vorbild Barcelona, das sich nach Olympia 1992 innerhalb weniger Jahre zu Europas drittwichtigstem Ziel für Wochenendreisen entwickelt hat, bleibt für Athen auch nach 2004 unerreichbar. Das hat einen schlichten Grund: Barcelona ist Barcelona. Und Athen ist Athen: ein Ort mit Vergangenheit, aber ohne Geschichte, die man als Kontinuum im Stadtbild ablesen könnte. Und die interessanten Facetten, die man in der uniformen Betonlandschaft gar nicht vermutet, wird man bei einem Kurzaufenthalt kaum ausfindig machen.

Die neuen Athenfans, wo sollen sie herkommen? Wer nur die antiken Kunstschätze und Bauwerke sehen will, wird die griechische Metropole auch ohne olympischen Anreiz besuchen. Wer aber aus Anlass der Sommerspiele 2004 nach Athen reist, dürfte die Stadt nicht so hinreißend finden, dass er noch einmal hinfahren will. Und auch die Fernsehbilder, die Milliarden Menschen in aller Welt erreichen, werden keinen Touristenboom auslösen. Sie mögen zwar gelungene Sportanlagen zeigen, aber auch eine in der Augusthitze flimmernde Stadt mit wenig Grün. Und die Übertragung des Marathonlaufs wird wie ein sozialkritischer Dokumentarfilm anmuten, der dem Zuschauer eine unendliche, trostlose Vorstadtlandschaft vor Augen führt.

Ein weiterer abschreckender Faktor sind die Sicherheitsmaßnahmen. Mit diesem Problem hätte jede Olympiastadt zu kämpfen. Aber für Athen, das mit dem Versprechen angetreten ist, die olympische Idee wieder auf ihre „menschlichen“ und angeblich maßvollen Dimensionen zurückzuführen, ist das Regime permanenter Personenkontrollen, das seit dem 11. September 2001 jedes Großereignis unter seine Knute nimmt, eine besonders grausame Strafe. Ein Athener Zeitungskommentar klagt: „Verschreckte Regierungen, ängstliche Zuschauer, nervöse Athleten, die von Sicherheitskameras, Polizisten, Leibwächtern, militärischen Spezialeinheiten beobachtet und von Luftabwehrraketen bewacht werden, all das ist mit den olympischen Idealen nicht vereinbar.“

Wie vereinbar dieses Sicherheitsregime mit dem Ehrgeiz ist, die olympischen Tribünen doch noch zu füllen, wird sich zeigen müssen. Denn nur, wenn die eher anarchisch gestimmten Athener sich mit dem permanenten Belagerungszustand abfinden, werden sie bereit sein, den geplanten Urlaub vielleicht doch noch zu streichen und sich in ein Stadion locken zu lassen. Für die Bewohner der Hauptstadt, die über ein Jahr lang das Chaos, den Lärm und den Staub der Olympiavorbereitungen geduldig ertragen haben, ist das eine höchst ironische Pointe. Nachdem man sie ständig bedrängt hat, doch bitte die Stadt zu verlassen, damit der olympische Verkehr unbehelligt fließen kann, will man sie jetzt zum Bleiben bewegen.

Und wahrscheinlich werden die neuen Hoffnungsträger sogar mitziehen. Nach den jüngsten Umfragen erklären sich über 40 Prozent der Athener bereit, doch noch auf „ihre Olympiade“ einzusteigen. Das sind 15 Prozent mehr als noch vor zwei Monaten.