montagskolumne: meinhard rohr zur lage der nation im spiegel seines wissens
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Als ich heute morgen in den Spiegel sah, entdeckte ich einen 48-jährigen weißen, unverheirateten heterosexuellen Wessi-Mann, der seit ein paar Jahren in Berlin-Mitte lebt. Ich war geschockt. Was aber würde anders sein, wenn ich eine 84-jährige schwarze, verheiratete homosexuelle Ossi-Frau wäre, die seit kurzem in Frankfurt am Main lebte? Nichts, gar nichts, überhaupt gar nichts. Ich würde immer noch alles dreimal, dreimal, dreimal sagen. Ich würde immer noch schreiben, kolumnieren und den Pegasus reiten. Ich würde immer noch behaupten, dass ich schon 1968, als ich leider noch zu den Linken gehörte, alles wusste, was ich jetzt weiß. Ich würde immer noch allen, die es nicht wissen wollen, erzählen, dass Berlin-Mitte in, hip und trendy ist. Ich würde immer noch Dichter, Denker und Philosophen zitieren – „gleich einem Vogel im Wind“, wie es der französische Existenzialist Serge Corbucci einmal so treffend sagte. Denn ich bin der Zaungast meiner selbst, tirili, tirili, tirili.

Diese Kolumne erscheint in loser, aber leider häufiger Folge.