Die Melancholie des Gelächters

Bei den Filmfestspielen in Venedig liefen in diesem Jahr viele Filme, die heiter auf die Anfechtungen der Gegenwart reagieren. Nur Andrej Zvjagintsevs Regiedebüt „Vozvrašcenje“, das den Goldenen Löwen gewann, geizte kaum mit heiligem Ernst

von CRISTINA NORD

Das Muster ist bekannt. Erst prescht Silvio Berlusconi nach vorn, indem er verbale Tiefschläge austeilt. In diesem Fall traf es einen ganzen Berufszweig: „Diese Richter sind im doppelten Sinne wahnsinnig“, sagte er Ende vergangener Woche in einem Interview. „Erstens sind sie es politisch. Und zudem sind sie überhaupt verrückt. Um diesen Beruf auszuüben, müssen sie geistesgestört sein … Sie machen diesen Beruf, weil sie anthropologisch andersartig sind als der Rest der menschlichen Rasse.“ Zwar entschuldigte sich der italienische Ministerpräsident, kaum war der Affront in der Welt. Doch seine Anwürfe schwächte er nur geringfügig ab. Die politische Rhetorik hat sich in Italien auf einem Niveau eingependelt, das bizarr zu nennen keine Übertreibung darstellt – ein Zustand, angesichts dessen man in ungläubiges Staunen verfallen könnte, böte er nicht erstklassigen Komödienstoff. Wie schön wäre es, wenn im Wettbewerb der nächsten Filmbiennale eine Groteske liefe: „Des Kaisers loses Mundwerk“ könnte sie heißen oder „Der Pitbull vom Palazzo Chigi“. Aus den Dysfunktionen der öffentlichen Rede bezöge sie ein Dialogstakkato, an dessen Ende der Premier, auf eine unbewohnte Insel verbannt, seinen Fuß in den Sand stampfte und bald den Richtern, bald den Journalisten, bald den Europaparlamentariern den Teufel an den Hals wünschte.

Auf dem Lido, dem schmalen Streifen Land zwischen der Lagune von Venedig und der Adria, bekam man von Berlusconis Rumpelstilzeleien nicht viel mit. Sicherlich, Moritz de Hadeln, der Leiter dieser 60. Mostra internazionale d’arte cinematografica, musste eine Kürzung der öffentlichen Zuschüsse hinnehmen; trugen sie im letzten Jahr den Gesamttat von etwa 5,5 Millionen Euro noch zum größten Teil (nur 700.000 Euro Sponsorengelder flossen damals ein), so musste de Hadeln den Anteil privaten Geldes in diesem Jahr auf zwei Millionen Euro aufstocken. Auch eine inhaltliche Verstimmung gab es: Als Paolo Benvenutis Wettbewerbsbeitrag „Segreti di stato“ („Staatsgeheimnisse“) lief, war die Berlusconi ergebene Presse not amused, folgte der Film doch einigen Verschwörungstheorien über den Hergang eines Massakers in einer sizilianischen Kleinstadt. Die große Politik blieb unterdessen auf dem Festland. Als am Samstagabend der Goldene Löwe an Andrej Zvjagintsevs Film „Vozvrašcenje“ („Die Rückkehr“) verliehen wurde, weilte Berlusconi bei der Jahresversammlung des neoliberalen Wirtschaftsforums Ambrosetti in Cernobbio am Comer See.

Die Komödie indes kam zum Lido – und das zunächst mit großer Verve. Schon am Eröffnungsabend gab es in Woody Allens „Anything else“ so halsbrecherische Wortkaskaden, dass man sich in die großen Zeiten der Screwball-Comedy zurückversetzt fühlte. „Selbst eine Uhr, die stehen geblieben ist, zeigt zweimal am Tag die richtige Zeit an“, sagt der von Allen gespielte Großstadtneurotiker Dolet, und das ist einer seiner raren versöhnlichen Sätze. Vor allem nämlich zeigen seine Repliken, dass die scheinbare Leichtigkeit der Komödie die Versehrung nicht ausblendet. Im Gegenteil: Je mehr Pointen Dolet mit dem Holocaust in Verbindung bringt, umso klarer tritt zutage, dass sich die Dauer des Lachens und die Tiefe der Verletzung in den besten Fällen proportional zueinander verhalten.

Von ähnlicher Tragweite war auch Sofia Coppolas zweiter Spielfilm „Lost in Translation“, dessen Hauptdarstellerin Scarlett Johansson im Controcorrente-Nebenwettbewerb den Preis für die beste Schauspielerin gewann. Den komödiantischen Elementen gab Coppola eine große Portion Melancholie bei; den Figuren ist ihre Umgebung, das Wunderland Tokio, fremd, und sie selbst sind es sich auch. Bill Murrays Gesicht bleibt reglos, er ist ein Stoiker, der ungerührt registriert, was die globalisierte Welt an Augenblicken des Scheiterns bereithält.

Und es ging weiter mit den Komödien: Da war das neue Werk der Brüder Joel und Ethan Coen, „Intolerable Cruelty“, das einen Scheidungsanwalt (George Clooney) und eine Abfindungsjägerin (Catherine Zeta-Jones) aufeinander losließ, mit einer hohen Pointendichte, scharfkantigen Dialogen und einer zündenden Verwechslung von Revolver und Asthmaspray. Da waren Noémie Lvovskys „Les sentiments“, Ridley Scotts „Matchstick Men“, Takeshi Kitanos „Zatoichi“ oder Jim Jarmuschs „Coffee and Cigarettes“, in dem man Bill Murrays versteinertem Gesicht erneut begegnete. Nicht in jedem Fall handelte es sich um gelungene Filme, und nicht in jedem Fall um lupenreine Komödien, eher um Hybride, die sich zwischen rückhaltlosem Gelächter und Melancholie einpendelten. Es liegt hierin einer der herausragenden Züge dieser Mostra: dass sie Filme zusammenstellte, die mit Heiterkeit und Leichtigkeit auf die Anfechtungen der Gegenwart reagierten. Selbst Manoel de Oliveiras schöner – und bei der Preisvergabe zu Unrecht übergangener – Film „Um filme falado“ („Ein gesprochener Film“) lebt, auch wenn er in eine der Realität abgeschauten, erschütternden Katastrophe mündet, von der Güte seiner Figuren. Sollte ein Filmfestival tatsächlich den Zustand der Welt spiegeln, so kristallisiert sich hier etwas Wesentliches: eine Haltung, die sich mit Freundlichkeit, Staunen und Neugier jener neuen Ernsthaftigkeit widersetzt, von der allenthalben die Rede ist.

Aus diesem Grund ist es weder eine repräsentative noch eine glückliche Juryentscheidung, wenn mit Zvjagintsevs Regiedebüt „Vozvrašcenje“ ausgerechnet der Film den Goldenen Löwen gewonnen hat, der mit heiligem Ernst am wenigsten geizte. „Vozvrašcenje“ handelt von einem abwesenden Vater, der eines Tages zu seiner Familie zurückkehrt. So überraschend, wie er kam, so schnell ist er wieder unterwegs: diesmal gemeinsam mit seinen beiden Söhnen. Die Reise führt durch menschenleere Landschaften, über dramatisch im Regen aufgewühlte Seen, bis sie schließlich auf einer verlassenen Insel endet. Da jede Einbettung in eine konkrete Umgebung fehlt, ist rasch klar: Der Film will vom Sozialen nichts wissen und stattdessen zum Elementaren vordringen – zum basalen Konflikt von Vater und Sohn. So gut „Vozvrašcenje“ auch fotografiert sein, so gut der 14 Jahre alte Dobronravov Ivan die Figur des jüngeren Sohnes spielen mag, so wenig lässt sich leugnen, dass die mythologische Aufladung den Film umflattert wie ein zu großes Kleid. Sich auf Tarkowsky zu berufen, ergibt eben noch keine schlüssige kinematographische Perspekive.

Väter und vor allem Vatersurrogate beherrschten auch andere Filme: In Scotts „Matchstick Men“ kommt ein von Nicolas Cage gespielter Trickbetrüger überraschend zu einer pubertierenden Tochter, in Alejandro Gonzalez Iñárritus „21 Grams“ ringt Benicio del Toro erfolglos darum, ein guter Vater zu sein, in Jacques Doillons „Raja“, in Coppolas „Lost in Translation“ oder Lvovskys „Les sentiments“ buhlen ältere Männer um die Gunst jüngerer Frauen. Wenn diese doch eigentlich aus der Mode gekommene Konstellation heutzutage noch aufregend sein kann, so liegt dies vor allem daran, dass die älteren Männer in diesen Filmen keine Patriarchen, sondern traurige Gestalten sind. Neben ihrer Vorliebe für zeitgeschichtliche Sujets fand die Mostra also einen Schwerpunkt in den Filmen, die die Landschaften der Gefühle, der Obsessionen und der menschlichen Bindungen erkunden.

Doch dabei fehlte etwas. Die Liebe findet zwischen Mann und Frau statt, andere Möglichkeiten sind, wenn überhaupt, nur am Rande vorgesehen. Dass anzumerken, soll nicht missverstanden werden als Teil jener drögen schwullesbischen Identitätspolitik, die Sichtbarkeit in allen Bereichen und um jeden Preis fordert, egal, ob bei der Bundeswehr, im Altersheim oder auf der Kinoleinwand. Eher geht es um ein Erstaunen: Ist das Queer Cinema tot? Hat es in Venedig (und zuvor schon in Cannes) keine Freunde? Könnte man sich Bruno Dumonts Drama „Twentynine Palms“ mit zwei männlichen Hauptfiguren vorstellen? Oder mit zwei weiblichen? Oder reicht die Einbildungskraft dafür nicht? Eine schwule Hauptfigur in „Le Soleil assassiné“ („Die getötete Sonne“), Abdelkrim Bahlouls Beitrag zur Controcorrente, eine männliche Geisha in Kitanos „Zatoichi“, einige schwule Figuren in Tsai Ming-Liangs „Good Bye, Dragon Inn“: Das ist wenig und scheint darauf hinzudeuten, dass man in schwierigen Zeiten dazu neigt, emotionale Konflikte über althergebrachte Figurenkonstellationen zu verhandeln.

Dies bedeutet eine Einschränkung, und zwar nicht nur in thematischer, sondern auch in ästhetischer Hinsicht. Schade – denn zu den großen Verdiensten dieser Filmbiennale zählte doch, dass sie einen aufregenden Ausschnitt aus der reichen Welt des Kinos präsentierte. De Hadelns glückliche, betont internationale Zusammenstellung ließ alle leidigen Diskussionen um das Ende des Autorenfilms und den Aufstieg Hollywoods verstummen. Von allen antiamerikanischen und antieuropäischen Ressentiments, die das Festival von Cannes in diesem Jahr so eintrübten, blieb nichts mehr als ein verirrtes spöttisches Lachen im Zuschauerraum, nachdem in einer der Episoden von Jim Jarmuschs „Coffee and Cigarettes“ George W. Bush als Idiot bezeichnet worden war.