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Archiv-Artikel

Philologie & Revolution

Mit Wissenschaftlichkeit zum Erfolg: Im Marx-Engels-Jahrbuch 2003 wird der berühmte Text „1. Feuerbach“ gründlich auseinander genommen und erstmals im faszinierenden Originalzustand präsentiert

VON CHRISTIAN SEMLER

Bekanntlich sind die Errungenschaften der DDR, die sich ans Ufer des vereinten Deutschland gerettet haben, an den Fingern einer Hand abzuzählen. Der grüne Abbiegepfeil an den Ampeln gilt als ebenso nützliches wie politisch harmloses Musterbeispiel. Weniger bekannt ist, dass es ausgerechnet ein gemeinsames Prestigeobjekt der Institute für Marxismus-Leninismus bei den ZKs der SED und der KPdSU von Beginn der 80er Jahre war, das nach einigen Fährnissen nicht nur überlebt hat, sondern – als internationales Unternehmen – heute sogar wächst und gedeiht. Nunmehr auf streng wissenschaftlicher Basis, versteht sich.

Die Rede ist von der historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke von Marx und Engels, Liebhabern als „neue“ oder „zweite MEGA“ bekannt. Die Editionsgeschichte der MEGA geht auf die 20er Jahre zurück, als der Marx-Forscher David Rjasanow in Moskau mit einem Mitarbeiterstab und unter sozialdemokratischer archivarischer Beihilfe aus Deutschland das ehrgeizige Projekt startete. Zu Anfang der 30er Jahre wurde Rjasanow, „eine faule Frucht vom Baum der zweiten [sozialdemokratischen; C.S.] Internationale“, erst abgesägt, dann verhaftet und schließlich umgebracht. Die MEGA, Rjasanows Lieblingskind, überlebte den Sturz des Meisters nur wenige Jahre. Die Arbeit an ihr galt fortan als schädlicher Luxus, kam es doch darauf an, die Werktätigen mit leicht lesbaren Ausgaben der „Klassiker“, noch besser mit mundgerechten Kompilationen zu versorgen.

Erst als in der DDR vor gut zwanzig Jahren die 43-bändige Ausgabe der Werke (MEW), besser bekannt als „die blauen Bände“, zum allgemeinen Publikumsgebrauch abgeschlossen war, durften die Marx-Philologen wieder an die Editionsfront. Resultat war eine Reihe sorgfältig editierter Bände, der Beginn der „zweiten MEGA“ . Sie hielten der philologischen Kritik auch aus dem kapitalistischen Ausland mühelos stand. Was die alte, abgebrochene MEGA anlangt, so zierten einzelne Bände, die den Krieg überstanden hatten, als rara socialistica die Bücherwände so mancher deutscher Alt- und Neulinken.

Eine besonders harte Nuss hatten die Editoren der für den allgemeinen Gebrauch bestimmten Ausgaben, also den blauen Bänden oder den rotgewandeten Einzelausgaben, bei jenen Werken der Zeit vor 1848 zu knacken, die unsinnigerweise unter dem Namen „Frühschriften“ bekannt sind. Für die Wissenschaftler unter realsozialistischer Aufsicht ergab sich hier das Problem, dass Marx zum Teil noch unter dem Einfluss der humanistischen Anthropologie Ludwig Feuerbachs stand, also noch kein „Marxist“ war. (Auch später, nach der Ausarbeitung der „reifen“ ökonomischen Theorie im „Kapital“, lehnte Marx diese Bezeichnung für sich ab. „Moi, je ne suis pas Marxiste“, erklärte er maliziös seinen Bewunderern.)

Prekär auch, dass Marx und Engels mit einem Begriff der „Entfremdung“ und der „Ideologie“, verstanden als falsches Bewusstsein, hantierten, deren kritischer Impetus sich umstandslos auf die realsozialistischen Verhältnisse anwenden ließ. Und – dass die beiden schließlich eine Vorstellung vom Kommunismus entwickelten, die in ihrer Verknüpfung von individueller und kollektiver Befreiung wie auch in ihrem Vertrauen auf die Spontaneität der Massen dem „Marxismus-Leninismus“ strikt zuwiderlief. Weshalb die Vorwortverfasser viel Energie auf den Nachweis verwenden mussten, dass in den Frühschriften „Leitsätze des dialektischen und historischen Materialismus“ vorgeprägt seien – Begriffe, die Marx und Engels überhaupt nicht verwendeten. Auch Auguste Cornu, Kommunist und großer Kenner der „Frühschriften“, versuchte mit solchen Anachronismen und Plattitüden die Ideologiegewaltigen zu besänftigen, allerdings vergeblich. So wurden die „Frühschriften“, von denen einige zunächst nur in der Bundesrepublik erschienen, zum Gegenstand eines west-östlichen Propagandastreits.

Ein besonders schreckliches Kuddelmuddel fanden schon Rjasanow und seine sowjetischen wie deutschen Kollegen vor, als sie sich den später, 1932, unter dem Namen „Die deutsche Ideologie“ herausgegebenen Texten zuwandten. Es handelte sich hierbei erstens um eine Reihe von Entwürfen, Reinschriften und späteren Korrekturen sowie zweitens um einen zusammenhängenden Text, der sich in schier endloser Länge kritisch mit Max Stirners „Der Einzige und sein Eigentum“ auseinander setzte. Letzteres Konvolut war von Marx und Engels zum Druck fertig gestellt worden, hatte aber aus politischen Gründen in Deutschland keinen Verleger gefunden. Pech für Marx und Engels, ein Glück für das damalige Publikum. Das Manuskript geht den Phantasmen Stirners, bis hin zu den Schamanen in der Mongolei, auf ebenso ermüdende wie kleinkarierte Weise nach. Zu Recht wurde es, wie Marx Jahre später schrieb, der „Kritik der Ratten und der Mäuse“ überlassen.

Ganz anders verhält es sich mit den Entwürfen und Fragmenten, dem ersten Teil des Konvoluts. Wir haben hier einen kühnen Abriss der Geschichtsentwicklung vor uns, der um die Dialektik von Produktionsverhältnissen (hier noch Verkehrsformen genannt) und Produktivkräften kreist und eine Vorstellung des Kommunismus entwickelt, die auf nicht weniger als der Abschaffung der Arbeitsteilung basiert. Diese Fragmente präludieren dem „Kommunistischen Manifest“ von 1848 und stellen im Übrigen ein Stück hinreißender Vormärzliteratur dar.

Der für die Herausgabe dieser Fragmente verantwortliche Redakteur der ersten MEGA, Pawel Meller, machte sich ans Werk, aus dem Materialbestand einen lesbaren Text zu montieren. Dabei verfuhr er philologisch völlig skrupellos, vor allem angesichts seiner historisch-kritischen Aufgabenstellung. Er warf die Chronologie über den Haufen und setzte willkürlich Überschriften ein. Um der griffigen Pointe willen schloss seine Textversion mit dem Satz: „Sie [die Proletarier; C.S.] befinden sich daher auch im direkten Gegensatz zu der Form, in der die Individuen der Gesellschaft sich bisher einen Gesamtausdruck gaben, zum Staat, und müssen den Staat stürzen, um ihre Persönlichkeit zu entfalten.“ Diese denkwürdige Einsicht von Marx und Engels findet sich indes im Original an gänzlich anderer Stelle. Mit einem Wort: Die Redakteure der ersten MEGA suggerierten die Existenz eines einzigen zusammenhängenden Textes. Diese Version fand unter dem Titel „1. Feuerbach“ als erster Teil der „Deutschen Ideologie“ Eingang in die späteren Werkausgaben zum allgemeinen Gebrauch, so auch in Band 3 der „blauen Bände“.

Welch ein Fund für die westdeutschen Linksradikalen der 60er Jahre! Band 3, für zehn Ost-Mark billig zum Schwindelkurs erstanden oder einfach aus Ostberlins Buchhandlungen enteignet, wurde wegen „1. Feuerbach“ zu einer der Lieblingslektüren und war lange vergriffen. Noch heute klingt den Zeitgenossen in den Ohren, was Rudi Dutschke, sehr frei nach „1. Feuerbach“ zum Umschlag der Produktivkräfte in „Destruktivkräfte“ unterm Kapitalismus mitzuteilen wusste, worunter die Rüstungsindustrie ebenso fiel wie der allgegenwärtige Konsumschrott. Uns Linksradikale störte nicht weiter, dass „1. Feuerbach“ merkwürdigerweise überhaupt nicht von Feuerbach handelte, sondern fast ausschließlich einen Parforceritt durch die materialistische Geschichtsauffassung der beiden Autoren Marx und Engels beinhaltete.

So erreichte der erste MEGA-Redakteur Pawel Weller posthum doch noch ein Publikum, das ihm in der realsozialistischen Weltregion verwehrt blieb. Denn beim Grundstudium des Marxismus-Leninismus in der DDR wurden kaum Klassiker gelesen, erst recht nicht „1. Feuerbach“ aus der „Deutschen Ideologie“. Wer als DDR-Studi einer kundigen Unterweisung in dieses fulminante Werk teilhaftig werden wollte, musste sich schon ins Seminar des Berliner Philosophen Wolfgang Heise bemühen, der allerdings bei den SED-Ideologen im Geruch des Revisionismus stand.

Heute endlich präsentieren die an der Berlin-Brandenburgischen Akademie angesiedelten Marx-Forscher der MEGA den Originalzustand von „1. Feuerbach“ in einem Textband und einem zweiten Band, der Varianten und Erläuterungen enthält. Gut lesbar: links durchlaufende Textpassagen, rechts die Zusätze und Korrekturen von Marxens Hand. Beide Bände erschienen als eine Art Werkstattbericht und füllen gänzlich das neu begründete „Marx-Engels-Jahrbuch 2003“ (Akademieverlag Berlin 2004, 400 Seiten, 59,80 Euro).

Den Autoren ist auch eine sorgfältige, klar formulierte Einleitung zur verschlungen Editionsgeschichte von „1. Feuerbach “ zu danken. Hier geht es nicht nur um die Befriedigung philologischer Gelüste. Wer wirft nicht gern ein, zwei Blicke ins Gedankenlaboratorium großer Meister. Wer sinnt nicht gern der Frage nach, auf welche Weise sich Marx und Engels in dieser Schrift zu einer eigenen, konstruktiven Darlegung ihrer Geschichtsauffassung durchkämpften, nachdem sie sich lange (und wie ausufernd!) mit ihren Intimfeinden, den Junghegelianern und den „wahren“ Sozialisten herumgeschlagen hatten.

Auch drängen sich manchmal nicht ganz wissenschaftliche Gedanken auf. Was zum Beispiel veranlasste Marx und Engels, in der berühmten Passage von „1. Feuerbach“, wo es um die freie Entfaltung der Persönlichkeit im Kommunismus geht, gerade die von ihnen selbst zur zeitweiligen Betätigung angeführten Berufe zu wählen und nicht vielmehr andere? Dem Variantenverzeichnis können wir entnehmen, dass Marx auch dem Schuhmacherberuf zur Mittagszeit, dem des Gärtners am Nachmittag zuneigte. Sogar Schauspieler wollte er zwischendurch sein, aber diese wie andere lustvolle Beschäftigungen fielen der Korrektur zum Opfer. Schade eigentlich. Kritiker (nach dem Essen) wollte er allerdings stets bleiben.

Mit der Selbsteinschätzung als „Dekonstruktivisten“ des von den Redakteuren der erste MEGA zusammengebackenen Textes greifen die Berliner Marx-Forscher allerdings daneben. Solche modischen Anleihen haben unsere verdienstvollen Philologen nicht nötig. Auch in seiner jetzt dargebotenen Form ist der Text von Marx und Engels zwar zergliedert und seine Lektüre verlangt mehrfaches Atemholen. Aber die „Dekonstruktion“ hat – Marx sei Dank – nicht dazu geführt, dass Luzidität und Verve der philologischen Arbeit zum Opfer gefallen sind.

Sowieso wacht kein Argusauge mehr darüber, dass die vorgeblichen „Leitsätze“ und „Prinzipien“ des Werks nur ja korrekt herausgearbeitet werden. Jetzt führt die Wissenschaftlichkeit das Zepter bei der neuen MEGA – „und das ist gut so“. Über die Praxistauglichkeit werden heute wie früher die geneigten Leser entscheiden.

CHRISTIAN SEMLER, 65, ist taz-Autor