: Ein Füllhorn voll klebriger Wunder
Was macht eine Französin beim Blick auf deutsche Schulanfänger so richtig neidisch? Die Schultüte. Denn sie birgt bunte Geheimnisse und verleiht der Einschulungszeremonie ihren wahren Zauber. Könnte man jedenfalls meinen
Vor der Schultür winkten mir meine Eltern zum Abschied: Jetzt würde ich endlich lesen lernen, sagten sie. Ich nickte. Und gesellte mich zu meinen Kameraden auf dem Hof. Die kannte ich ja schon vom Ganztagskindergarten. Wenig aufregend, das Ganze. Zwar trug jeder von uns einen neuen, glänzenden Ranzen, aber das war es dann auch schon. So banal sind Einschulungen in Frankreich, so unspektakulär war auch mein Schulanfang. Weshalb ich heute ein wenig neidisch auf deutsche Abc-Schützen bin: Die haben es besser. Wegen der Schultüte.
Deutsche Erstklässler erhalten bekanntlich von ihren Eltern zum ersten Schultag ein großes Überraschungspaket: eine hohe, spitze Tüte, meist aus festem Karton gerollt, hochglanzbeschichtet und mit tollen Motivaufklebern – Eisenbahnen oder Meerjungfrauen. Schwer und prall gefüllt sieht die Tüte aus, geheimnisvoll. Drinnen schlummert sicher etwas ganz Besonders. Vielleicht ein Zaubertier oder eine Marionette? Oder ein Büchlein mit Tipps gegen Schulangst? Auf solch ein wundersames Füllhorn muss man einfach neidisch sein.
Inzwischen weiß ich: Die Tütenmode nahm vor knapp 200 Jahren ihren Anfang in Deutschland. Im Jahr 1810 wurde erstmals in Sachsen und Thüringen den Erstklässlern der Start in den Ernst des Lebens versüßt. Anfangs waren es sicher nur Kinder aus besserem Hause, die ein Geschenk zur Einschulung bekamen. Und wahrscheinlich auch nur in größeren Städten. Mit der Einführung der Schulpflicht in Deutschland vermehrten sich nach 1870 auch die Tüten deutlich. Und ab 1910 wurden sie im erzgebirgischen Wiesa fabrikmäßig hergestellt. Seitdem haben sich die spitzen, bunten Dinger über ganz Deutschland ausgebreitet. Nur den Sprung über die Grenzen haben sie noch nicht geschafft.
Im Rahmen des europäischen Zusammenwachsens hegte ich große Hoffnungen auf die Einführung der Schultüte in Frankreich, bis ich einmal ein Gespräch unter deutschen Eltern über den Inhalt des mysteriösen Pappkonus belauschte: Er sei randvoll mit Süßigkeiten. Und das klebrige Zeug verursache doch nur Karies. Deswegen rieten Zahnärzte bereits dazu, die Tüten mit Obst und Nüssen zu bestücken. Ich war skeptisch: Warum rieten sie nicht dazu, Zahnputzzeug zu den Süßigkeiten zu packen? Das wäre doch viel pädagogischer. Aber vielleicht lehnten die Franzosen deutsche Schultüten vor allem deshalb ab: weil sie eine Gefahr für gesunde Zähne bedeuten. Dass französische, tütenlose Kinder die besseren Zähne haben, ist freilich unbewiesen. Ich für meinen Teil blieb auf die Schultüte neidisch.
Jetzt, pünktlich zum Schuljahresbeginn, liegen sie wieder in den Läden. Und ich habe noch etwas Neues über sie erfahren: Schulanfänger mussten sie früher mühsam von einem „Schultütenbaum“ – einem Drahtgestell – angeln. Von solchen sportlichen Herausforderungen kann heute nicht mehr die Rede sein. Der Nachwuchs bekommt die süßen Kegel schon auf den Schulweg von den Eltern in die Hand gedrückt. Kein Wunder, dass die Kleinen zu Übergewicht neigen. Die Lösung liegt auf der Hand: Deutsche, füllt die Schultüten eurer Kinder mit Springseilen und Frisbeescheiben! Vielleicht ist es dafür schon zu spät: Die Nachfrage, so heißt es, sinkt. Aber die Aushändigung der Schultüte wird wohl immer ein magischer Augenblick deutscher Kindheit bleiben. Und ich werde sie weiterhin darum beneiden.
CHARLOTTE NOBLET