Mehr Welt ist nirgends

Die von Kulturkritikern gern gescholtene Kommerzialisierung der Olympischen Spiele macht Teilnehmer der Dritten Welt überhaupt erst anschlussfähig. Die Geldflüsse, ob nun von Coca-Cola oder Nike, fließen zudem zurück in die olympische Bewegung und damit zu den einzelnen Sportlern

VON JAN FEDDERSEN

Man nannte sie umgehend die „Coca-Cola-Spiele“, und das galt, ohne nähere Begründung, als sprachliches Siegel einer Form von Letztkritik, wie sie Kulturpessimisten eigen ist. 1991 war es, als Atlanta den Zuschlag für die Olympischen Sommerspiele 1996 erhielt – jene amerikanische Metropole also, in der auch die Zentrale des Konzerns ansässig ist, welcher eben jenes Getränk herstellt, das wie kein anderes für den American Way of Life steht. Mehr: für die orale Verführungskraft – sehr süß und deshalb den Durst immer weiter befördern – des Kapitalismus. Coca-Cola eben.

Schlimmer noch: Das Nachsehen hatte damals jene Stadt, in der gestern Nacht die Olympischen Spiele eröffnet worden sind, Athen. Die Wiege, wie es gern heißt, der neuen olympischen Bewegung, der Ort, an dem 1896 die ersten Spiele der Neuzeit stattfanden – der Hort hehren Griechentums unterlegen gegen die Allmacht des Geldes, des schnöden Mammons. Das ward als Omen gelesen für eine Welt, die immer mehr von der glühenden Walze des Kapitalismus platt gemacht wird.

Dass das Internationale Olympische Komitee vor dreizehn Jahren – allen bekannt gewordenen Korruptionsfällen um Stimmenkauf zum Trotz – eine kluge Entscheidung getroffen haben könnte, spielte in den Erwägungen keine Rolle: Athen nämlich hatte schon deshalb nur geringe Chancen auf den Zuschlag, weil Barcelona als europäische Stadt 1992 Gastgeber des mächtigsten Showevents der zeitgenössischen Geschichte sein würde – und weil die griechische Hauptstadt im Gegensatz zu Atlanta keinerlei Mühe aufwandte, um plausibel zu machen, wie man dieses Ereignis organisatorisch zu bewältigen gedachte.

Ein Fall von alteuropäischem Hochmut kam da zu Fall: Man dachte, Athen als Label reiche aus, um zu tun, was einem angeblich zustünde. Atlanta hingegen kam mit umfangreichen Managementplänen – und mit einem Konzept, wie man the games organisiert, ohne bankrott zu gehen. Obendrein: Atlantas Bewerbungskomitee versprach, ein Gros der überschüssigen Gelder in den Sport zu reinvestieren – und zwar in dessen human ressources, die Sportler nämlich. In Amerikaner, Afrikaner, Asiaten und Europäer.

Atlanta konnte sich, jedenfalls in Europa, nie von dem unseriösen Ruch befreien, Coca-Cola-Spiele zu veranstalten. Dass sie, für Afroamerikaner beispielsweise, schon deshalb einem glücklichen Symbol noch heute gleichkommen, blieb in unseren Breiten weitgehend unbeachtet: Das Olympische Feuer wurde von einem Helden der amerikanischen Sportgeschichte entzündet – von Muhammad Ali, dem Boxer, der 1960 in Rom bei den Olympischen Spielen Gold holte, ehe er seine durch und durch bürgerrechtlich inspirierte Karriere als Champion aller Klassen begann. Dies wurde nicht allein in den USA, sondern in allen Weltgegenden mit überwiegend nichtweißer Bevölkerung goutiert: Dass die Olympischen Spiele gerade in ihrer unverhohlen kapitalistischen Prägung egalitär funktionieren – in kultureller und sportlicher Hinsicht.

Die Kulturkritik der pessimistischen Sorte („Alles wird schlimmer“) hat die segensreichen Wirkungen der olympischen Geldflüsse nie verstanden. Für sie ist alles, so dokumentiert es auch eine deprimierend schlecht gelaunte Serie der „Kulturzeit“ auf 3sat, nur eine „Illusionsmaschine“, die den Blick auf den wahren Zustand der Welt verstellt; eine „Inszenierung einer menschlichen Utopie“, also nichts als Theater und schlechter Schein, der Menschen auf Muskeln, Weiten und Zeiten reduziere; Olympische Spiele „als Gesamtkunstwerk tendieren zum Faschismus“. Dionysos Kawathas, Philosoph, wird in der gleichen Reihe zustimmend zu Wort gelassen mit den Worten: „Ich neige dazu, zu behaupten, dass die Masse das Ornament der technischen Apparatur ist.“

Ein Satz, empirisch unbefrachtet, der vor empörtem Staunen über das Profane sportlichen Tuns nur so trieft – versetzt darüber hinaus mit einer mächtigen Portion Widerwillen gegen den Anspruch von ziemlich vielen Menschen aller Provenienzen, an ihnen teilzuhaben: Überall nur Masse und Apparaturen. Dabei ist es gerade das erinnerungslose Geld, das den Sport olympischer Prägung erst zum globalen Termin macht – und eben die Vereinbarung darüber, dass gilt, was dem Sport immanent ist: Es gelten Zeiten, Weiten und Höhen.

Aber: Dem Sport ist es egal, ob jemand, der den 400-Meter-Lauf gewinnt, in den schulischen Kernfächern brillant war oder ist. Mehr noch: Sport lebt gerade und ausschließlich davon, dass klassische Bildungsfragen keine Rolle spielen – emotionale, besser: körperliche Intelligenz ist viel wichtiger. Die Kunst eben, auf den Punkt fit zu sein und Möglichkeiten zu nutzen. Früher waren Olympische Spiele solche der Wohlhabenden – nur wer von Haus aus hatte, konnte sich jahrelangem Training unterwerfen. Wer früher als Sportler – als Werbeträger beispielsweise – Geld annahm, wurde disqualifiziert: Und es waren meist Sportler, die familiär mit wenig bis gar nichts versehen waren, materiell gesehen. Olympische Spiele – das waren exklusive Feste der bürgerlichen Klassen, eine Party, zu der sich nur gelegentlich proletarische Zaungäste verirrten.

Seit Olympische Spiele in den Kategorien von Rentabilität und Zukunftsinvestition gedacht werden müssen, funktionieren sie global – nicht als „Illusionsmaschine“, sondern als Folie von allerlei Träumen, Identifikationen und Projektionen. Rentabel müssen die Spiele für die Organisatoren sein – für die Sponsoren sind sie es günstigenfalls langfristig. Dass Coca-Cola, Samsung, TV-Sender, Nike und andere Konzerne Millionensummen zahlen, dient deren Image- und Quotengewinn: Nirgendwo sonst gibt es ein Entertainmentformat, das solch globales Fiebern verspricht. Und das zu gutem Nutzen für den einzelnen Sportler, der, weil empirisch vorhanden, gern übersehen wird, wenn der kommerzielle Charakter der Olympischen Spiele als beginnender Niedergang des Guten verhandelt wird: Als ob die ganze Arbeit erst Anerkennung verdiente, wenn sie ehrenamtlich geleistet wird.

Tatsächlich fließen fast alle Sponsorengelder in die olympische Bewegung zurück – Förderprogramme von Sportlern in Afrika, Asien, Lateinamerika und der Karibik fruchten dort in einer Weise, die, so der südafrikanische Held Nelson Mandela, „uns hilft, der Welt zu zeigen, dass wir auch tolle Sportler haben können“. Kein Wunder, dass heutzutage Länder im Medaillenspiegel auftauchen – Malaysia, Indonesien, Mozambique, Trinidad & Tobago, Mongolei, Namibia –, die sonst nirgend Beachtung finden: Ihre Sportler demonstrieren Anschlussfähigkeit an eine, wie es in der Dritten Welt zutreffend erkannt wird, bessere Welt.

Dass diese Globalisierung der Medaillenchancen in den Konzernzentralen gern gesehen wird, leuchtet ein: Coca-Cola ist an Märkten interessiert, und zwar an allen – und das hat ein gutes Image zur Voraussetzung, eines, das kein Label günstiger bietet als eben die Olympischen Spiele. Entsprechend ist auch der Relaunch des olympischen Disziplinenkanons zu verstehen: Erst mit der wachsenden Kommerzialisierung hob das Internationale Olympische Komitee in erster Linie in Asien beheimatete Sportarten wie Badminton, Taek-Won-Do und Bogenschießen ins Programm: um dort Identifikationschancen zu stiften.

Die Verführungskraft der olympischen Idee ist selbst in Afghanistan spürbar, jahrelang heimgesucht von religiösen Fanatikern: Eine Sportlerin namens Robina Muquimar wird für das Land an den Start gehen. Eine Sprinterin, die schon aus Gründen der sportlichen Würde auf die Burka verzichten muss – und deshalb in ihrem Land zum Idol werden wird. Eine, die sich traut. Eine wie die algerische Mittelstrecklerin Hassiba Boulmerka, die 1992 bei den Spielen von Barcelona Gold gewann und sich den Zorn der Fundamentalisten zuzog, weil sie im Sportdress antrat. Die Athletin selbst begriff ihren Siegeslauf als Widerstand – und bewies, dass Olympische Spiele eine Plattform für die Realisation von Anerkennungswünsche von Minderheiten sind: für Frauen wie Boulmerka, auch für solche wie Cathy Freeman, die die Olympische Flamme in Sydney entzündete und in Australien eine (versöhnende) Schulddebatte um die Diskriminierung von Aborigines anfeuerte.

Was Kulturkritiker auch gern vergessen: Olympische Spiele mögen Dramen (und eben keine Kriege) um Muskeln und Sehnen ermöglichen – wichtiger aber ist doch die Chance auch für jene, die dem gewöhnlichen Schönheitsstandard eher wenig entsprechen, einmal ganz vorne landen zu können. KugelstoßerInnen, RingerInnen oder GewichtheberInnen. Egal ob Segelohren, Muskelgebirge oder Fettmassen: Auf dem olympischen Catwalk zählt nicht geschmäcklerische Anmut, sondern – nichts als Weite, Höhe, Bestzeit. Gäbe es die Olympischen Spiele kapitalistischer Prägung nicht, man müsste sie unbedingt ins Leben rufen: Nirgendwo ist mehr Welt.