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Archiv-Artikel

EU-KOMMISSION: BARROSO MUSS SICH VON LISSABON VERABSCHIEDEN Solidarität als neues Projekt Europas

Es gibt bisher nicht viele Sätze des neuen EU-Kommissionspräsidenten, die zum Nachdenken anregen. Dass das Problem Europas nicht die Euro-Skepsis weniger, sondern die Euro-Apathie vieler sei, ist einer von ihnen. Womit José Manuel Barroso wohl so viel sagen wollte wie: Die Union braucht wieder ein Projekt, das die Menschen herausholt aus ihrer Gleichgültigkeit und ihnen zeigt, wofür die EU eigentlich gut ist.

Doch wie könnte dieses Projekt aussehen? Nicht ohne Neid wird sich Barroso an seine Vorgänger erinnern, die es so viel leichter hatten. Unter Jacques Delors wurde der Binnenmarkt Realität, Jacques Santer stand für die Umsetzung der Währungsunion, Romano Prodi für die Osterweiterung. Doch wofür wird die neue Kommission stehen?

Zumindest für Barroso ist inzwischen klar, wohin er die EU führen will. Das Stichwort des Portugiesen heißt Lissabon, und das nicht nur, weil es die Hauptstadt seines Heimatlandes ist. Seit dem EU-Gipfel von Lissabon 2000 steht die Stadt für eine Strategie, die Europa bis zum Jahre 2010 zur wirtschaftlich stärksten Region der ganzen Welt machen soll. Wachstum, Beschäftigung, Innovation – so lauten die hehren Ziele. Barroso will sich nicht damit zufrieden geben, Kommissionspräsident zu sein, er hat die Gründung einer eigenen Lissabon-Arbeitsgruppe angekündigt, deren Vorsitz er selbst übernehmen will.

Der Mann hat Mut. Denn die Lissabon-Strategie ist schon heute zum Scheitern verurteilt. Asien mit Indien und China, das ist derzeit die Boomregion der Welt, da hilft Europa auch der im Vergleich zur Alt-EU schneller wachsende Osten nicht. Außerdem ist gerade die Wirtschaftspolitik der Bereich, in dem die EU-Kommission fast nichts zu sagen hat. Sie darf „koordinieren“, für den Rest sind die Mitgliedstaaten selbst zuständig. Und wie unterschiedlich deren Strategien aussehen, zeigt der Streit über die Liberalisierung der Märkte oder die Harmonisierung der Steuern. Nicht zuletzt aber war die Lissabon-Strategie bisher nie viel mehr als großes Wortgeklimper. Obwohl die jährlichen Frühjahrsgipfel der Regierungschefs sich mit ihr beschäftigen sollen, wurde die Diskussion über mehr Arbeitsplätze stets schnell von anderen Problemen verdrängt. Die Gründe dafür sind klar: Bekannt ist nur das Ziel, den Weg dorthin kennt keiner.

José Manuel Barroso sollte daher etwas kleinere Brötchen backen. Die Europäische Union hat sich in den letzten 15 Jahren mit solch unglaublicher Geschwindigkeit entwickelt, dass sie sich nun Zeit zur Konsolidierung lassen sollte. Die Erweiterung wurde zwar ohne die erwarteten Erschütterungen vollzogen, doch nun muss es darum gehen, die Unterschiede zwischen armen und reichen Regionen abzubauen. Diese Solidarität zwischen Arm und Reich ist im Übrigen eine der vorrangigsten und vornehmsten Aufgaben der EU – und im Unterschied zur Lissabon-Strategie ist die Kommission dafür auch tatsächlich zuständig. In den nächsten Jahren werden bis zu 50 Milliarden Euro pro Jahr für die Regionalpolitik zur Verfügung stehen, mehr als ein Drittel des EU-Haushalts und fast ebenso viel wie für die Agrarpolitik. Nicht zuletzt profitiert davon auch der Westen: Jeder vierte Euro für den Aufbau Osteuropas wird hier ausgegeben.

Neben die innere Konsolidierung sollte die äußere treten. Umfragen zeigen immer wieder, dass eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik auf der Prioritätenliste der Bürger Europas ganz oben steht. Dafür hat diese Kommission bessere Voraussetzungen als jede ihre Vorgängerinnen. Nach der Ratifizierung der Verfassung wird die EU einen Außenminister haben, die jetzige Zersplitterung zwischen verschiedenen Kommissaren und dem Repräsentanten des Rates hat ein Ende. Dabei geht es nicht einmal so sehr um Terrorbekämpfung oder den Aufbau einer „Gegenmacht“ zu den USA. Beantwortet werden muss in den kommenden Jahren vor allem die Frage, welche Staaten noch in die EU aufgenommen werden sollen – und welche nachbarschaftliche Politik man jenen anbietet, deren Aufnahme die Grenzen der EU sprengen würde. Die Türkei, Ukraine oder auch Serbien wollen endlich klare Antworten.

Bei der Solidarität mit den Armen Europas und den Grenzen dieser Solidarität geht es um die grundlegenden Fragen der EU. Fragen, die nicht so konkret, praxisnah sind wie Binnenmarkt oder Währungsunion. Doch wenn es gelingt, sie zu beantworten, werden die Bürger Europas auch wieder wissen, wofür die EU gut ist. SABINE HERRE