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Archiv-Artikel

Schiedsrichter gesucht

Die Weg aus der Wirtschaftskrise führt nur über den offenen Binnenmarkt. Doch der EU-Gipfel zeigte erneut: Brüssel schafft es nicht, die Nationalinteressen zurückzudrängen

Nur eine starke EU-Kommission könnte unparteiisch über Maßnahmen und Nothilfen entscheiden Politiker wollen die heimische Wirtschaft schützen und hoffen, dass Brüssel für den Binnenmarkt sorgt

Kollektives Händeschütteln, Schulterklopfen und Küsschengeben fördert den Realitätsverlust. Nur so ist zu erklären, dass nach dem Sondergipfel am Sonntag alle Teilnehmer verkündeten, es gebe keinen Protektionismus in Europa.

Ratspräsident Topolánek erklärte seinen Streit mit Frankreich gar zu einer Erfindung der Medien. Dabei hatte er sich noch kurz zuvor bitter darüber beschwert, dass Frankreichs Präsident Sarkozy Renault und Citroën nur unterstützen will, wenn mit den 6 Milliarden Euro Arbeitsplätze in Frankreich gesichert werden. Die Werke in Tschechien könnten gerne dichtgemacht werden.

Natürlich weiß auch der populistische Sprücheklopfer, dass „La Grande Nation“ nicht aus eigener Kraft die Krise überwinden kann. Und auch, dass ein kollabierendes EU-Mitglied Tschechien andere Länder mit in den Strudel ziehen würde. Denn die Volkswirtschaften sind durch Banken- und Firmenzusammenschlüsse, Produktionsketten und nicht zuletzt die Einheitswährung auf Gedeih und Verderb aneinander gebunden. Nur eine starke EU-Kommission könnte unparteiisch entscheiden, welche Maßnahmen für die Gemeinschaft bekömmlich und welche Nothilfen für einzelne Länder unerlässlich sind. Doch Brüssel agiert nicht – es reagiert nur auf Druck aus den Mitgliedsstaaten.

Es dürfte schwerfallen, in der aktuellen Krise einen europäischen Politiker zu finden, der sich gegen die Turbulenzen besser gewappnet glaubte, wenn sein Land nicht Teil des Binnenmarktes oder der Eurozone wäre. Im Gegenteil: Dass es Irland deshalb nicht so hart getroffen hat wie Island, weil es zur EU gehört, ist Konsens. Deshalb möchten die bankrotten Isländer am liebsten recht bald EU-Mitglied werden. Die Osteuropäer drängen trotz hoher Haushaltsdefizite in die Eurozone. Sogar das euroskeptische Polen würde lieber heute als morgen die Gemeinschaftswährung einführen.

Gleichzeitig werden die ursprünglich von allen Mitgliedsstaaten einstimmig verabredeten Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts jeden Tag ein Stück mehr außer Kraft gesetzt. Die Neuverschuldung schnellt in die Höhe, gegen sechs Euroländer hat die EU-Kommission bereits ein neues Defizitverfahren angestrengt. Doch das beeindruckt niemanden. Ein Blauer Brief aus Brüssel verliert seinen Schrecken, wenn ein Drittel der Euro-Länder ihn gleichzeitig erhalten. Bis Strafen fällig werden vergehen Jahre. Dann ist der Schaden längst angerichtet. Würden die Kriterien nun zeitweise gelockert, um einige hoch verschuldete osteuropäische Länder aufzunehmen, würde die Einheitswährung weiter an Stabilität verlieren. Der Schutz, den sich die Mitglieder der Währungszone versprechen, wäre hinfällig.

Ähnliches gilt für den Binnenmarkt. Staatsbeihilfen, Bürgschaften, Kredite und Kaufanreize, die ausschließlich den eigenen nationalen Unternehmen zugute kommen, ruinieren ihn. Wenn Frankreich den Konsumenten 1.000 Euro Verschrottungsprämie für den Kauf eines Neuwagens in Aussicht stellt, legt Deutschland mit 2.500 Euro noch eins drauf. Ein wahrer Wettbewerb scheint um die Frage entbrannt, wer seinen Banken das meiste Geld hinterher wirft. In Großbritannien forderten Gewerkschafter, staatlich geförderte Aufträge nur an Unternehmen zu vergeben, die ausschließlich britische Arbeiter beschäftigen. Auch in Spanien wird die Forderung lauter, Staatshilfen nur an Unternehmen mit spanischen Arbeitern auszuzahlen. Der Industrieminister hat die Bevölkerung aufgerufen, nur noch in Spanien hergestellte Produkte zu kaufen. Am dollsten trieb es Sarkozy, als er seinen Autobauern Geld versprach, wenn sie als Gegenleistung Arbeitsplätze aus tschechischen Werken nach Frankreich zurückholten.

Solche Sprüche sollen die aufgewühlten Gemüter der Wähler beruhigen. Gleichzeitig wissen die Regierungen aber ganz genau, dass nur ein funktionierender Binnenmarkt mit gleichen Wettbewerbsmöglichkeiten für alle in der aktuellen Krise eine Chance hat. So entsteht die schizophrene Situation, dass die nationalen Politiker zwar populistisch den Schutz der heimischen Wirtschaft fordern, gleichzeitig aber hoffen, dass Brüssel weiter für einen funktionierenden Binnenmarkt sorgt. Doch Barrosos Kommission, deren große Stunde nun schlagen müsste, winkt Staatsbeihilfen, nationale Bürgschaften und Kredite in Milliardenhöhe einfach durch. Sie beschränkt sich auf allgemeine Mahnungen, Leitlinien und Defizitverfahren.

Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen haben große Länder wie Deutschland und Frankreich die Kommission seit Jahren gegängelt, ihre Schiedssprüche ignoriert und ihre Wettbewerbshüter an die möglichst kurze Leine gelegt. Mit Manuel Barroso wählten sie sich einen Kommissionspräsidenten, dem das Wohlwollen der Regierungen für seine zweite Amtszeit mehr bedeutet als die Unabhängigkeit seiner Behörde. Hinzu kommt, dass keiner der zurzeit regierenden Politiker Erfahrungen mit einer Krise diesen Ausmaßes hat. Niemand will den Geldfluss bremsen und dafür verantwortlich sein, dass noch mehr Firmen dichtmachen müssen. Als „learning by doing“ beschrieb Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes kürzlich ihre eigene Zickzackpolitik. Die Niederländerin, in den ersten Amtsjahren nicht durch Feingefühl und Zurückhaltung aufgefallen, zögert derzeit Entscheidungen hinaus.

So bleibt den Chefs nichts anderes übrig, als sich gegenseitig mahnend auf die Finger zu klopfen. Das Sondertreffen der Regierungschefs vergangenen Sonntag diente nur dem Zweck, Abweichler auf Linie zu bringen. Doch der Sonntagsausflug nach Brüssel hat nichts gebracht. Denn wenn alle Dreck am Stecken haben, ist ihr moralisches Gewicht gleich null. Ein Gipfeltreffen ist auch nicht das geeignete Gremium, um Beihilfeprogramme zu bewerten und Wettbewerbsfragen zu klären. Dafür gibt es Fachleute in der EU-Kommission. Diese genehmigte wenige Stunden vor dem Treffen den französischen Rettungsplan für Renault und Citroën. Daran könne man doch mal wieder sehen, wie überaus nützlich solche Gipfel seien, erklärte Nicholas Sarkozy mit wahrhaft wölfischem Grinsen der versammelten Medienwelt. Mit anderen Worten: Die Kommission hat nicht aus Überzeugung gehandelt, sondern auf Druck reagiert.

Sarkozy hat auf dem Gipfel am Sonntag gesagt, man könne aus jeder Krise etwas lernen. Die aktuelle Lektion lautet, dass nur eine unabhängige EU-Kommission mit einem starken Kommissionspräsidenten dafür sorgen kann, dass Binnenmarkt und Euro nicht ausgerechnet dann aufgeweicht werden, wenn man sie am dringendsten braucht. Diese Erkenntnis scheint auch einigen Staatschefs zu dämmern. Ein Kommissionspräsident wie Barroso, dem die persönliche Karriere wichtiger ist als seine politischen Aufgaben, ist zwar bequem. Doch gerade in Krisenzeiten brauchen Eurozone und Binnenmarkt ein starkes, unparteiisches Schiedsgericht.

DANIELA WEINGÄRTNER

Fotohinweis:Daniela Weingärtner berichtet seit 1999 für die taz aus Brüssel und hat die Verfassungsdebatte in der EU intensiv verfolgt. Die Entwicklung der EU analysiert sie schon seit ihrer Zeit beim „Europamagazin“ des Südwestfunks vor 20 Jahren.