: Insel im Meer der Armut
Cancún lockt Reiche und Arme. Als Dienstleister der Globalisierung verlieren die Maya ihr Selbstbewusstsein
aus Cancún KATHARINA KOUFEN
Eine perfekte Stadt wollten sie bauen – davon träumten der mexikanische Präsident Luis Echevarría und seine Stadtplaner Anfang der 70er-Jahre. Eine Stadt, die der ganzen Region Entwicklung bringen sollte, Arbeitsplätze und Kapital aus dem Ausland. Das Meer schimmerte damals schon verführerisch grün, der Strand lockte puderweiß, und die Korallenriffe gehörten zu den schönsten der Welt. Also entwarfen die Planer ein Touristenzentrum. So entstand Cancún. Aus dem feuchtheißen Nichts ist seitdem eine Stadt mit 750.000 Einwohnern gewachsen. Allein in den letzten zehn Jahren hat sich die Bevölkerung verdoppelt, die Tendenz ist weiter steigend. „Perfekte Stadt?“ Jorge Gonzales, Schriftsteller und Chronist der Retortenstadt, lacht trocken. „Cancún ist nur in einer Hinsicht eine perfekte Stadt: Wenn Sie auf kleinstem Raum zeigen wollen, was Globalisierung eigentlich ist.“
Victor Marín fährt gut zehnmal am Tag zwischen dem Flughafen und der Hotelzone hin und her. Er ist Angestellter bei einem der beiden Taxiunternehmen. Vierzig Dollar kostet die Fahrt, die vom Festland auf die Landzunge führt, wo auf 35 Kilometern Länge ein Hotel neben dem anderen steht. Wer dort für 75 Dollar pro Nacht unterkommt, hat noch Glück: Die meisten „Best Western“ und „Fiesta Americanas“ verlangen um die 200 Dollar für ein Zimmer mit Frühstück. Für Marín, der Vater von drei Kindern ist, würde das 50 Tage Arbeit bedeuten. Vier Dollar am Tag verdient er als Taxifahrer, plus Trinkgeld.
Und mehr Lohn ist auch nicht in Sicht, denn billige Arbeitskräfte gibt es mehr als genug. Cancún wirkt wie ein Magnet auf die umliegenden Provinzen. Aus Yucatán, Chiapas oder Campeche kommen die Menschen in die Boomtown. Und trotzdem: „Die Auslandsinvestitionen sind gekommen, die Arbeitsplätze auch. Aber die Entwicklung, die ist ausgeblieben“, sagt Gonzales. „Die Hotelzone ist eine Insel inmitten eines Meeres von Armut.“ So fließt auf der Insel aus sämtlichen Wasserhähnen 24 Stunden am Tag warmes und kaltes Wasser. Zu jedem Hotel gehört ein Swimmingpool, und die Anlagen mit ihrem sattgrünen Gras und den Kokospalmen werden ununterbrochen von Rasensprengern berieselt. Im wirklichen Cancún ist die Versorgung mit Wasser auf drei Stunden am Tag beschränkt – und auch das nur für die drei Viertel der Bevölkerung, die überhaupt ans Wassernetz angeschlossen sind.
Die Trennung in Arm und Reich wird auf unfreiwillige Weise unterstrichen, wenn ab heute die Welthandelsorganisation in Cancún tagt. Die „Offiziellen“, also Handelsminister aus 146 Ländern, deren Referenten, Presseattachés, Journalisten und jede Menge Lobbygruppen residieren in den Hotels und Konferenzsälen auf der reichen Seite. Die Gegner der WTO, allen voran schätzungsweise tausend Bauern überwiegend aus Mexiko, bleiben auf der armen Seite. Viele von ihnen campieren am Rande eines Stadions im Zentrum von Cancún.
„Natürlich braucht eine solche Konferenz die Möglichkeiten, die nur die Hotelzone bieten kann“, sagt Gonzales. „Aber es würde den WTO-Ministern gut tun, ihre Politik einmal am Beispiel Cancún zu studieren. Eine Lehre ist: Auslandsinvestitionen führen nicht automatisch zu Entwicklung, sondern nur dann, wenn der Staat das Geld dorthin lenkt, wo es gebraucht wird.“
In Cancún investieren überwiegend amerikanische und spanische Firmen, oft mit Anteilen reicher arabischer Geldgeber. Die Gewinne werden ins Ausland zurücküberwiesen. Die Kritiker der WTO, in Mexiko pauschal als „Globalifobicos“ diskreditiert, fordern deshalb, dass es Staaten erlaubt sein soll, einen Teil des Geldes über Steuern oder Auflagen wie Jointventures im Land zu halten. Einer von ihnen, der Umweltschützer Arturo Mosso, erklärt: „Solche Regeln dürfen nicht einfach als Handelshemmnisse abgetan werden.“ Mosso arbeitet als Ozeanologe für den mexikanischen Staat. Er taucht regelmäßig an den Korallenriffen vor der Karibikküste und gehört zu denen, die vom Tourismus profitieren: „Ohne Tauchurlauber wäre mein Job schon längst eingespart worden.“ Trotzdem sieht Mosso die Entwicklung seiner Heimatstadt kritisch. „Es gibt hier einfach viel zu viele Touristen. Direkt und indirekt führt das zu einer Verschmutzung, die unseren gesamten Lebensraum gefährdet.“
Direkt deshalb, weil die Urlauber das ganze Jahr über baden, schnorcheln, tauchen und sich „in alten Motorbooten durch die Gegend fahren lassen, die Öl und Benzin ohne Ende verlieren“. Indirekt, weil der private Wasserkonzern Aguakan, eine Tochter des französischen Ondeo-Konzerns, seit der Übernahme der Wasserversorgung vor zehn Jahren „viel Geld in die Wasserleitungen der Hotelzone gesteckt hat, aber wenig in die Probleme der Stadt Cancún“.
Entgegen der vertraglichen Abmachung haben immer noch 70 Prozent aller Haushalte keinen Anschluss an die Kanalisation. Stattdessen wird, was von rund 400.000 Menschen täglich in die Toilette gelangt, direkt in die unterirdischen Höhlen des porösen Gesteins der Region gespült – und von dort ins Grundwasser. Das ist bereits so verdreckt, dass Aguakan sein Leitungswasser aus einer Region 50 Kilometer vor Cancún bezieht. Und der Schmutz ist längst auch bis in die dem Meer vorgelagerte Lagune gelangt, wo „nur noch ein paar Krokodile“ ausharren, die Fische seien schon längst alle gestorben, klagt Mosso. Das gleiche Schicksal droht den Korallenriffen, wenn nicht schnell etwas passiert. Für den Ozeanologen ein Grund, gegen die WTO zu protestieren: „Deren Ziel ist es, die Umweltstandards immer noch weiter zu senken – und unser Land kann dann nichts mehr dagegen tun.“
Und noch etwas möchte Mosso der WTO ans Herz legen: Seht her, was in einem Land passiert, das seit zehn Jahren mit einem viel reicheren Land zusammen in einer Freihandelszone lebt. „Früher gab es in Cancún Märkte, wo die Bauern aus dem Umland ihr Gemüse verkauft haben. Heute gibt es Wal-Mart und all die anderen großen Supermärkte.“ Weil das hoch subventionierte Obst und Gemüse aus den USA seit der Gründung der Nordamerikanischen Freihandelszone Nafta freien Eintritt nach Mexiko hat, lohnt es sich für die heimischen Bauern nicht mehr, auf dem Markt zu verkaufen. „Die Folge ist doch: Die verlieren nicht nur ihr Einkommen, sondern auch ihre Identität.“
„Identitätsverlust“ – das ist auch die Diagnose des Chronisten Jorge Gonzales, der an der Universität die Kultur der Maya studiert hat, der Ureinwohner der Region. Ein Großteil der Hotelangestellten in Cancún sind Mayas. „Sie kommen aus ihren Dörfern, wo sie in jahrhundertealter Tradition gelebt haben, in die Stadt. Dort müssen sie plötzlich Rasenmäher bedienen, Englisch sprechen und sehen zum ersten Mal in ihrem Leben fremde Frauen im Bikini.“ Dort werde ihre Kultur „im besten Fall zu kitschiger Folklore degradiert“, wie Gonzales bitter feststellt. Den Touristen wird als „Handarbeit der Eingeborenen“ verkauft, was längst „Made in China“ ist. „Abends fahren diese Hotelangestellten dann in ihr Armenviertel nach Hause. Das verkraften ganz viele nicht“, meint der Autor, der selbst aus einer Maya-Familie stammt. „Sie schämen sich ihrer Herkunft. Sie fangen an zu trinken, werden depressiv.“ Und begehen, im schlimmsten Fall, Selbstmord. Vor allem unter Jugendlichen sei die Suizidrate erschreckend hoch, so Gonzales, viel höher als in anderen Teilen des Landes. „Diese Art von Globalisierung, wie sie hier in Cancún geschieht, ist für die Mayas das zweite große Trauma nach der Eroberung durch die Spanier.“