: Chávez siegt und singt
Einen Tag und eine Nacht hat die Wahl gedauert, jetzt steht fest: Venezuelas Präsident Hugo Chávez bleibt im Amt
AUS CARACAS INGO MALCHER
Der Sänger hat kein begleitendes Orchester, aber eine eindringliche Stimme. Um halb fünf Uhr am Montagmorgen steht Hugo Chávez auf dem Balkon des Präsidentenpalastes von Miraflores in Caracas und singt die venezolanische Nationalhymne. „Gloria al bravo pueblo“ – Glorie für das mutige Volk. Mehrere tausend seiner Anhänger stehen auf der Avenida Bolívar und singen mit. Sie tragen rote T-Shirts und schwenken die gelb-blau-rote venezolanische Fahne. Als der Sänger seinen Vortrag beendet hat, fordern seine Fans wie im Rockkonzert: „Zugabe!“ Chávez ist kein Mann, der sich lange bitten lässt und stimmt ein weiteres Freiheitslied ein: „Oligarchen, nehmt euch in Acht!“
Der Titel ist Programm. Mit schöner Regelmäßigkeit hat Chávez in der Vergangenheit seine Gegner als „Oligarchen“ tituliert. Im Glanz des Triumphs kostet Chávez seine Überlegenheit aus. Am Montagmorgen 3.47 Uhr Ortszeit verkündete die Nationale Wahlbehörde (CNE) die erste Hochrechnung des Referendums, mit dem die Opposition Chávez aus dem Amt hebeln wollte. Die Frage: „Sind Sie damit einverstanden, dem Bürger Hugo Chávez Frías das ihm für die derzeitige Periode gegebene Mandat als Präsident der Bolivarischen Republik Venezuela zu entziehen?“ beantworteten danach 58,25 Prozent der Venezolaner mit Nein. Nur 41,74 stimmten mit Ja.
Ein großer Triumph. Allerdings von kurzer Dauer. Die Gegenrede kommt keine 50 Minuten später. „Die Zahlen, die unsere technischen Teams gesammelt haben, sagen etwas ganz anderes aus“, sagt Henry Ramos, einer der Sprecher des Oppositionsbündnisses Demokratische Koordinierung (DC). Die DC hat das Anti-Chávez-Referendum erzwungen und ist nicht bereit, einen Sieg des verhassten Gegners zu akzeptieren. Ramos fährt daher schweres Geschütz gegen den einstigen Oberstleutnant Chávez auf: „Es handelt sich hier um einen großen Wahlbetrug am venezolanischen Volk.“ In Wirklichkeit, so Ramos, sei das Ergebnis genau umgekehrt. Danach hätten 59,4 Prozent der Venezolaner für eine Absetzung von Chávez gestimmt, nur 40,1 Prozent für ihn. Woher er diese Zahlen hat, sagt er nicht.
Schon am Samstag hatte die Demokratische Koordinierung per E-Mail ein Umfrageergebnis an Journalisten verschickt, obwohl zu dieser Zeit keine Umfragen mehr veröffentlicht werden durften. In diesem Papier wurde davon ausgegangen, dass das Referendum 60:40 ausgehen wird – Niederlage Chávez. Auch gestern Morgen, Minuten vor der Veröffentlichung der ersten offiziellen Hochrechnung durch die Wahlbehörde, schickte die Demokratische Koordinierung wieder eine E-Mail: „Laut vertraulichen Quellen“ hätten 60 Prozent der Venezolaner gegen Chávez gestimmt, nur 40 Prozent für ihn. Der Vorwurf des Wahlbetrugs stand da schon im Raum. Dabei ging eine Vielzahl von Umfrageinstituten von einem Sieg für Chávez aus – nur die CD-Empiriker nicht.
Beweise für den Vorwurf? „In den Gesichtern der Leute sah man klar, was ihre Referenz war“, will Ramos erkannt haben. Weitere Beweise sollen noch folgen. Bei internationalen Organisationen will Ramos das Ergebnis des Referendums anfechten: „Nur im Ausland haben wir eine Chance darauf, gehört zu werden, hier nicht.“
Die internationalen Wahlbeobachter äußerten sich in der Nacht von Sonntag auf Montag zunächst nicht zu den Vorwürfen. Am Samstag jedoch hatte der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter, der mit seiner Stiftung Carter Center die Wahlen beobachtet, gesagt: „Ich habe volles Vertrauen, dass das Referendum ehrlich und transparent sein wird.“
Er widersprach auch der Ansicht der Opposition, dass in Venezuela die Menschenrechte verletzt würden. „Es ist meine persönliche Meinung, dass die grundlegenden Menschenrechte in Venezuela eingehalten werden“, so Carter. So garantiere die Regierung von Hugo Chávez das Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit und freie Wahlen.
Mit dem Vorwurf des Wahlbetrugs durch die CD bleibt Venezuela stark polarisiert. Chávez feiert sich als gloriosen Sieger, seine Gegner verteufeln ihn als Despoten, der jetzt auch Wahlen fälscht. Logische Folge: Sie werden ihn als Präsident nicht anerkennen und daraus ein Recht auf Widerstand ableiten. Ein Spiel mit dem Feuer, sind doch die Fronten zwischen Regierung und Opposition extrem verhärtet. Die Chávez-Anhänger provozieren ebenfalls: Am frühen Montagmorgen zogen sie im Autokorso laut hupend und kreischend durch Altamira, ein klassisches Viertel der wohlhabenden Opposition.
Dabei gab das Referendum durchaus Anlass zur Hoffnung. 14 Millionen Venezolaner waren dazu aufgerufen, am Sonntag über die politische Zukunft von Präsident Chávez zu entscheiden – und sie brachen dabei einen Rekord. Mit fast zehn Millionen abgegebenen Stimmen war die Wahlbeteiligung so hoch wie noch nie in dem Land, wo traditionell nur die Hälfte der Venezolaner zur Abstimmung gehen. Für viele war es das erste Mal überhaupt. Der Grund dafür war bislang oft ein bürokratischer: Viele Venezolaner hatten bisher keinen Ausweis. Seit dem Amtsantritt von Chávez im Jahr 1999 hat die Regierung die Bürger gezielt registriert und massenhaft Personaldokumente ausgestellt.
Begonnen hatte der Wahlsonntag mit einem Donnerschlag. Zwischen drei und vier Uhr morgens zündeten Chávez-Anhänger in allen Städten des Landes Feuerwerksmunition, um die Venezolaner zum Wählen zu wecken. Schon ab drei standen in Caracas die Wähler Schlange vor den Lokalen, die erst um sechs ihre Türen öffneten. Und eigentlich um vier Uhr Nachmittags wieder schließen sollten. Doch die Nationale Wahlbehörde (CNE) hatte den Ansturm unterschätzt – und dehnte die Öffnungszeiten immer weiter aus. In Venezuela dürfen die Lokale erst schließen, wenn der Letzte in der Schlange seine Stimme abgegeben hat. Deshalb dauerte es mancherorts bis vier Uhr morgens, bis mit der Stimmauszählung begonnen und die Daten nach Caracas zur CNE übermittelt werden konnten.
Doch nicht nur die hohe Wahlbeteiligung führt zu Wartezeiten von zum Teil zehn Stunden. Auch die digitalen Fingerabdruckscanner funktionierten nur fehlerhaft. Das musste Chávez am eigenen Leib erleben. Als er am Sonntagmittag im Armenviertel 23 de Enero wählen ging, erkannte ihn das Fingerabdrucklesegerät nicht. „Wie ein Bandit“, witzelte er. Nachdem er seine Stimme in der Papp-Urne versenkt hat, sagt er: „Ich werde das Ergebnis akzeptieren. Ich möchte aber auch, dass die Opposition das Ergebnis akzeptiert.“ Dann rief er zur Besonnenheit auf: „Wenn es andersrum kommt, als man hofft, muss man sich daran erinnern, dass es um das Land geht.“ Sechzehn Stunden später stand er auf dem Balkon des Präsidentenpalastes und sang.