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Archiv-Artikel

Tödlicher Protest

aus Cancún KATHARINA KOUFEN

Dass die WTO Menschen tötet –davon sind ihre Gegner schon lange überzeugt. Nicht direkt, sondern indirekt, zum Beispiel, indem ihre Patentregeln verhindern, dass Kranke lebensrettende Medikamente erhalten. Aber dass ein Mensch wegen der WTO Selbstmord begeht – das ist neu. Der Koreaner Lee Kyang Hae sah sein Leben offenbar derart von den Folgen des Freihandels beeinträchtigt, dass er auf der Demonstration zum Auftakt der WTO-Tagung im mexikanischen Cancún ein Messer nahm und es sich in die Brust stach.

Kyang Hae war nicht irgendein Verrückter, sondern der Präsident der Vereinigung koreanischer Bauern und Fischer. „Lee wollte mit seinem Selbstmord die WTO anprangern, die unsere Bauern tötet und die Landwirtschaft Koreas zerstört“, erklärten seine Mitstreiter. Der 56-Jährige hatte jahrelang gegen die Welthandelsorganisation gekämpft. Angeblich versuchte er bereits 1993, sich umzubringen, damals im Gebäude des WTO-Vorläufers Gatt in Genf. Dieser Freitod hat in Korea Tradition. Wenn sich ein Diener von seinem Herrn gedemütigt fühlt, bringt er sich vor dessen Augen um, damit der sich seinerseits gedemütigt fühlt.

Koreas Bauern fürchten, dass ihre Regierung einer weiteren Liberalisierung des Agrarhandels zustimmt. Schon jetzt sinkt etwa der Preis für Reis stetig, weil billigere Konkurrenz aus dem Ausland auf den koreanischen Markt drängt. Die Regierung ist gleichzeitig dabei, die Subventionen für die Bauern abzubauen. Dabei, so argumentiert Kyang Haes Verband, seien die Höfe in Korea überwiegend zu klein, um international mithalten zu können.

Die Koreaner waren schon vor dem Tod Kyang Haes unter den vielen Demonstranten in Cancún aufgefallen. Einmal, weil die meisten der rund 100 Delegierten beige Westen trugen, aber auch, weil sie zum großen Teil die 50 schon schon überschritten haben. Sobald eine Demonstration in den vergangenen Tagen die so genannte Hotelzone erreichte, warfen sie sich unter Anfeuerungsrufen immer wieder gegen den drei Meter hohen Zaun, der die Zone der Konferenzteilnehmer schützen soll.

Am Mittwochabend beginnt der Zaun, der von Polizei und Medien zur „unüberwindbaren Barriere“ hochstilisiert wurde, tatsächlich zu kippen. Von hinten drängen rund 20.000 Demonstranten, um auf die andere Seite zu kommen. Ihnen stehen nur mehrere hundert Polizisten gegenüber, die versuchen, den Zaun am Umfallen zu hindern.

Die Polizisten, sonst nicht gerade für ihre Zimperlichkeit bekannt, halten sich geradezu stoisch zurück. Da fliegen die ersten Gegenstände, erst sind es nur kleinere Steine und Plastikflaschen, bald auch ziegelsteingroße Lehmbrocken und brennende Fahnen. Irgendwann schmeißen ein paar Polizisten die Steine zurück, setzen Pfefferspray ein und Wasserschläuche. Ein Demonstrant – ohne Helm – wird von einem Stein getroffen und schwer verletzt. Am Ende der Demo wird die offizielle Bilanz lauten: mindestens 46 Verletzte, davon viele Polizisten.

Später distanzieren sich die Veranstalter vom Menschenrechts- und Bauernverband Via Campesina zum Teil von den Steinewerfern. „Diese Leute waren keine mexikanischen Bauern“, sagt Emilio García, einer der Organisatoren. Sondern – nach unterschiedlichen Angaben – Anarchisten, radikale Studenten aus der Hauptstadt, zum großen Teil Autonome aus Kanada, Großbritannien, Italien und den USA. „Ganz einfach Mob“, wie sich eine Studentin aus Mexiko-Stadt empört. Aber Organisator Rafael Alegria hingegen räumt ein, auch „der eine oder andere Bauer könnte einen Stein geworfen haben – so etwas kommt vor“.

Am Abend geht der Protest weiter. Jetzt geht es vor allem um den Tod Lee Kyang Hees, „der sein Leben dem Kampf geopfert hat“, und um die Solidarität mit den Koreanern.