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Archiv-Artikel

Der Norden geht in Rente

Schleswig-Holstein wird allmählich zum Altenheim: Bei einem Kongress über demografischen Wandel überraschte Landes-Chefin Heide Simonis die Experten

Kiel taz ■ In Kotzenbüll ist die Welt noch in Ordnung: Das idyllische Dorf auf der Halbinsel Eiderstedt, nahe St.Peter-Ording, ist statistisch der jüngste Ort in Schleswig-Holstein. Doch außerhalb dieser Oase sieht das Land ganz schön alt aus: Bis 2050 sinkt die Bevölkerung um 400.000 Menschen, die übrig Bleibenden werden immer älter. Bis 2020 schrumpft der Norden insgesamt, ergab eine Studie des Welt-Wirtschafts-Archivs. Am stärksten betroffen sind Bremerhaven und Stralsund, wo dann 20 beziehungsweise 27 Prozent weniger Menschen leben werden. Der ganze Norden verliert 2,5 Prozent, im Bund sind es nur 0,8.

Die Kieler Landesregierung hatte Anfang der Woche zu einem Kongress eingeladen, um über den demografischen Wandel zu beraten. Fast die komplette MinisterInnen-Riege trat an, und auch der Ökonom und Schröder-Berater Bert Rürup war mit von der Partie. Der Wandel bedeute auch eine Chance, betonte Ministerpräsidentin Heide Simonis, und Wirtschaftsminister Bernd Rohwer (beide SPD) fügte an, welche: Die Alten hätten Bedarf an Wellness-Parks und Pflegediensten, sie würden ihr Geld für touristische Angebote ausgeben – und das bedeute Arbeitsplätze. Die Kinder von heute seien in 20 Jahren als Fachkräfte gefragt, prognostizierte der Minister. Die Regierung halte dafür schon Aus- und Weiterbildungskonzepte bereit. Neu beackern will das Kabinett die Felder Wohnungsbau und Bildung: „Was spricht dagegen, Schulen so zu planen, dass sie in 30, 40 Jahren zu Fabriken oder zu Freizeitstätten umgebaut werden können?“, fragte die Ministerpräsidentin.

Bis zum Ende des Jahres will ihre Regierung ein Konzept herausbringen, in dem Einzelheiten festgeschrieben werden. Simonis’ bisher konkretester Vorschlag aber betrifft ein Thema, das mit demografischem Wandel wenig zu tun hat: Die Dörfer im Flächenland sollten sich zu größeren Einheiten zusammenschließen – bisher auf freiwilliger Basis. Jetzt aber droht Simonis mit „gesetzgeberischen Maßnahmen“, sollten die Bürgermeister weiter unwillig bleiben.

„Keine Ahnung, warum sie das jetzt gesagt hat“, reagiert der Sprecher des Innenministeriums, Ove Rahlfs. „So richtig hat das mit Demografie nichts zu tun.“ Das glaubt auch Hans Wolff, der Bürgermeister von Kotzenbüll: In seinem Dorf gebe es auch deshalb so viele Kinder, weil die junge Generation ihre Häuschen neben denen der Eltern baue, alle sich mit dem Ort identifizierten und viel ehrenamtliche Arbeit leisteten. „Viel wichtiger ist die Arbeitsmarktpolitik“, meint er. „Denn ohne Stellen zieht die Jugend weg.“Esther Geißlinger