: Verschwommene Erinnerungen
Mutmaßungen über das Innere der „Terrorzelle“ Marienstraße: Belastungszeuge kann im Motassadeq-Prozess nur wenig zur Wahrheitsfindung beitragen
Er war ein guter Freund des 2002 festgenommenen Ramzi Binalshibh, den er seit 1997 kannte, und er ging in der Harburger „Terrorzelle“ Marienstraße ein und aus. Über das Innenleben der Gruppe um die Todespiloten Mohamed Atta und Marwan Al Shehhi sowie Binalshibh und Said Bahaji weiß er vieles zu berichten. Doch als Belastungszeuge gegen den Angeklagten taugt der 23-jährige Shahid N., ein zum Islam konvertierter deutschstämmiger Hamburger, kaum.
Die Erinnerungen des gestern vor dem Oberlandesgericht im Motassadeq-Prozess vernommenen Zeugen der Anklage sind inzwischen verschwommen, seine Aussagen über die Stellung des Beschuldigten in der Gruppe beruhen zudem auf Mutmaßungen. Der Angeklagte sei nach seiner Beobachtung regelmäßig nach gemeinsamen Moscheebesuchen in der Marienstraße gewesen – zwei- bis dreimal pro Woche. Diese Zahl, so räumt der Student ein, sei geschätzt.
Konkret könne er sich heute – im Gegensatz zu früheren Vernehmungen – nur an ein einziges Zusammentreffen mit dem Angeklagten in der Marienstraße erinnnern. Auch daran, welche Position Motassadeq in den zunehmend um den Jihad – den „heiligen Krieg“ gegen Ungläubige und speziell Juden und US-Amerikaner – kreisenden Diskussionen vertrat, konnte sich N. gestern nicht mehr erinnern. Während seiner ersten gerichtlichen Vernehmung vor knapp zwei Jahren hatte er Motassadeq noch als die „Nummer vier“ in der Hierarchie der Gruppe bezeichnet – gleich nach den beiden Todespiloten Atta und Al Shehhi sowie Binalshibh.
Ab Mitte 1999, so sagt Shahid N. aus, habe sich die Gruppe um Atta radikalisiert, „zurückgezogen und extrem abgekapselt“. Der frühe enge Kontakt habe sich von beiden Seiten aus gelockert: „Mir wurden sie zu extrem und sie wollten mich nicht bei ihren Treffen dabeihaben.“ Von geplanten Anschlägen hätte er nichts erfahren, beteuert der Zeuge. Er habe sich aber vorstellen können, dass Mitglieder der Gruppe etwa nach Bosnien oder Tschetschenien gehen würden, um sich am viel beschworenen „heiligen Krieg“ zu beteiligen.
Befragt nach der Strukur der Gruppe, beschreibt der Zeuge Atta als unterkühlten, tonangebenden Chefdenker, radikal in der Auslegung des Koran, streng gegen sich selbst und andere. Er sei geprägt gewesen von „einem unendlichen Hass auf Juden und Amerikaner“. Für Binalshibh sei alles „ein großes Abenteuer, seine große Begeisterung“, und der ruhige Marwan Al Shehhi schließlich ein „treuer Gefährte“ der beiden gewesen. Binalshibh, ursprünglich „nicht so religiös“, habe sich sehr intensiv mit dem Islam beschäftigt, um in der Gruppe „anerkannt zu werden“.
Der Angeklagte Motassadeq kommt in dieser Beschreibung des „inner circle“ durch den Zeugen nicht vor. Marco Carini