: Revolution an der Bremer Gesamtschule
An Bremer Gesamtschulen war bisher ehernes Prinzip: Nach der 10. Klasse ist Schluss mit lustig. Wer Abitur machen wollte, sollte irgendwo anders hingehen. Am Donnerstag feiert nun die erste Gesamtschul-Oberstufe in der Delmestraße ihre Geburt
Bremen taz ■ An diesem Donnerstag Punkt 12 Uhr wird in dem Schulgebäude an der Delmestraße Geburtstag gefeiert im wörtlichen Sinne: Dort wird die erste Gesamtschul-Oberstufe Bremens geboren. 87 SchülerInnen in vier Profilgruppen werden erwartet, Bildungssenator Willi Lemke kommt. Der Tag ist ein weiterer Wendepunkt in der bremischen Schulgeschichte.
Anders als sonst in der Republik endeten in Bremen bisher nämlich die Gesamtschulen mit der 10. Klasse, das war über 30 Jahre streng durchgehaltenes Prinzip sozialdemokratischer Reformpolitik: Das Schulsystem sollte „horizontal“ gegliedert sein. Das bedeutet: In der Mittelstufe sollten Realschüler mit Gymnasiasten in eine Schule gehen, Oberstufenschüler sollten mit Berufsschülern unter einem Dach unterrichtet werden. Dazwischen gab es einen Schulwechsel. Inzwischen ist unter Pädagogen wieder selbstverständlich, dass die „Durchgängigkeit“ ein ganz wichtiges Prinzip ist. Für den Planer und Koordinator der neuen Gesamtschul-Oberstufe, Martin Kurp, ist das Angebot der Durchgängigkeit auch der wesentliche Gewinn, den die Gesamtschulen und insbesondere seine Integrierte Stadtteilschule am Leibnizplatz (ISL) durch das Angebot dieser Oberstufe bekommen: Eltern von leistungsstarken Schülern müssen ihren Kindern nicht zwingend einen zusätzlichen Schulwechsel zumuten, wenn sie sich nach der 4. Klassenstufe für eine Gesamtschule entscheiden.
Ein anderes Prinzip der Schulpolitik der letzten Jahrzehnte ist gleich mit über den Haufen geworden worden: Galt es für die Oberstufe als selbstverständlich, dass die SchülerInnen von Kurs zu Kurs frei wählen konnten und damit die soziale Bezugsgruppe wechselten, so ist nun eine alte Erkenntnis wieder selbstverständlich: „Ein stabiles soziales Gefüge ist für die Schüler wichtig“ (Kurp). Einen Leistungskurs und drei Grundkurse haben die Schüler einer Profilgruppe gemeinsam, das macht die Mehrzahl der Unterrichtsstunden der Woche aus. Nur noch zu einem Leistungskurs und den restlichen Grundkursen gehen sie getrennte Wege je nach Neigung.
Zwischen vier Profilen mussten die SchülerInnen wählen, die sich für die Gesamtschul-Oberstufe anmelden wollten. Deutsch/Darstellendes Spiel ist eines der Profile („Kultur unter der Lupe“), Englisch/Wirtschaft ein anderes. Das naturwissenschaftliche Profil (Biologie/Politik/Informatik) trägt den klingenden Namen „Ordnung und Chaos“, ein klassisches Profil „Menschen in einer Welt“ hat Geschichte als Leistungskurs und Bio/Geografie/Kunst in den Zusatzfächern. Diese Kernfächer kooperieren und SchülerInnen müssen in jedem Halbjahr ein gemeinsames Projekt durchführen, an dessen Ende eine Präsentation der Ergebnisse steht. So soll an der Gesamtschul-Oberstufe, erläutert Kurp, fortgesetzt werden, was in den unteren Klasse besonders geübt wird: Erlernen von Methodenkompetenz, fächerübergreifendes, anwendungsorientiertes Wissen.
Aus den Gesamtschulen Leibnizplatz, Hermannsburg und Gesamtschule Mitte kommt ein großer Teil der Schüler zur neuen Delmestraße, von den traditionellen Gesamtschulen Ost (GSO) und West kommt niemand. „Die Wege sind einfach zu weit“, sagt Kurp. Und außerdem haben diese beiden Gesamtschulen ein Oberstufenangebot in der Nähe. Warum wurden diese Oberstufen-Zentren (Rübekamp im Westen und Walliser Straße im Osten) nicht auch zu Oberstufen der Gesamtschulen umgegründet? „Ich hätte mir das gewünscht“, sagt Kurp. „Das wäre konsequent gewesen“, sagt der Leiter der GSO, Franz Jentschke. 1975, als er an die GSO kam, da habe man noch für die Jahrgänge 5 bis 13 geplant. Im Bremer Osten gab es keinerlei gymnasiales Angebot, Schulen wie die Koblenzer Straße waren Haupt- und Realschulen. Gymnasiasten mussten in die Innenstadt fahren. Da wäre ein Gesamtschul-Angebot, das für Gy-Schüler bis zum Abitur reicht, attraktiv gewesen. Politisch war es aber nicht gewollt – horizontal gegliederte Stufenschulen standen als Ziel im Schulgesetz. Die GSO verlor wie alle Gesamtschulen an Attraktivität für Schüler, deren Eltern das Abitur als Ziel vor Augen hatten. „Ich habe das damals schon nicht gut gefunden“, gesteht Jentschke. Auch er ist überzeugt davon, dass die vielen Brüche, die das Stufen-System mit sich gebracht hat, „eine Katastrophe“ seien für die SchülerInnen.
Einer der Väter der bremischen Gesamtschulen ist Horst von Hassel. Er war in Bremerhaven 1969 bei der ersten Gesamtschule in der Heinrich-Heine-Straße stellvertretender Schulleiter, später SPD-Bildungssenator in Bremen. Eine Diskussion um die Oberstufe für die Gesamtschulen habe es damals nicht gegeben, erinnert sich von Hassel. Auch im Bildungsrat sei die Devise „horizontale Gliederung“ klar gewesen. Das bedeutet: „Wenn wir den Gesamtschulen eine eigene Oberstufe gegeben hätten, dann müsste man ihnen auch eine Berufsschule zuordnen.“ Die Durchgängigkeit galt für die sozialdemokratische Schulreform-Idee damals wenig.
Die Integration der Berufsschulen war eine fixe Idee, sie hat nie funktioniert. Und auch an anderer Stelle tauchen ältere Bekannte wieder auf: Was früher „Haupt- und Realschule“ war und abgeschafft gehörte, heißt als neue Erfindung nun „Sekundarschule“. Klaus Wolschner