: Idyll mit steigender Temperatur
„Bye bye, Puffins“: Wenn sich die Nordsee erwärmt, sterben die Larven der Sandaale. Wenn es weniger Sandaale gibt, bringen die Papageientaucher keine Küken mehr zur Flugreife. Eine Spurensuche auf Rathlin Island – einem Seevögelparadies vor Nordirland, das auf die Katastrophe wartet
VON CORD RIECHELMANN
Es ist heiß an diesem ersten Augustsonntag in Church Bay. Church Bay ist der kleine Hafen des vor der Küste Nordirlands liegenden Rathlin Island. An jener Stelle, an der die Wassermassen des Nordkanals der Irischen See sich mit denen des Atlantik vermischen. Die Hitze und die durch keine Wolke gedämpften Sonnenstrahlen setzen den auf der Terrasse des einzigen Pub der Insel versammelten Besuchern und Einheimischen sichtlich zu.
Die Gesichter und die unbedeckten Hautpartien nehmen eine Farbe an, die hier – das jedenfalls haben einem vorher alle gesagt – nicht zu erwarten war. Irgendwie zwischen Mallorca-Rosa und Ibiza-Rot. Einer Frau wachsen über der Sonnenbrille auf der Stirn und auf den Armen ungesund wirkende Pusteln. Sonnenallergie, meint sie. Und ein eigentlich stabil wirkender Inselbewohner schüttelt über seinem Bier den Kopf, als wolle er etwas herausschleudern. Schwindel hat ihn befallen, und so geht er in den Pub zum Geruch von Fish and Chips.
Man selbst hat den Koffer voll mit dicken Pullovern, Regensachen und festen Schuhen, nur die Sonnencreme hat man nicht. Braucht man nicht in Nordirland, hatten vorher alle gesagt. Und weil draußen ein angenehm frischer Wind weht, vergisst man das mit der Sonne beim Gehen auch wieder. Unweit des Hafens an der um Church Bay flachen Küste liegen auf den Steinen zwischen dem bei Niedrigwasser frei werdenden Blatttang an die dreißig Seehunde und sonnen sich. Denen jedenfalls verfärben die Strahlen die Haut nicht, sie trocknen nur das Fell. Die Seehunde blicken nur manchmal hoch, wenn ein Spaziergänger vorbeikommt. Ansonsten tun sie nichts.
Im Grünbraun der wabernden Tangblätter werden nach einiger Zeit die verschiedensten Vögel sichtbar. Eiderenten mit ihren Jungen schnäbeln filternd durch das Wasser. Genauso braun wie der Tang sind sie gut getarnt und wachsam wie die Austernfischer, die, obwohl schwarzweiß gefiedert mit roten Beinen, auch meist erst dann auffallen, wenn sie hochfliegend ihre lauten „kliip“-Rufe äußern. Man könnte versucht sein, Rathlin Island mit seinen knapp hundert Einwohnern, zwei Kirchen und einer Schule für vier Schüler zwar nicht als Idylle, aber doch zumindest als Erholungsort zu empfinden.
„Disaster at sea“
Dazu passt, dass einem ein Junge vor dem einzigen Café des Ortes, das einer der Bewohner in den Vorgarten seines Hauses gestellt hat, ein Flugblatt der Royal Society for the Protection of Birds, abgekürzt RSPB, auf den Tisch legt. „Bye bye, Puffins“ steht da drauf. Und dann schießt es einem doch schreckhaft in den Bauch, der Junge lächelt allerdings und hat gute Laune. Medien entfalten manchmal eine Wirkung, die unabhängig vom Ort die Wahrnehmung so präadaptieren, dass die Erwartung immer gleich ins Katastrophale kippt.
Aber der Reihe nach. Puffins ist der englische Name für Papageientaucher. Mittelgroße, gedrungen wirkende Seevögel, am Körper oben schwarz, unten weiß, mit einem augenfälligen dicken, seitlich abgeflachten, eben papageienähnlichen Schnabel. Puffins nisten überall um Rathlin Island an den Felsküsten und gehören zu den Attraktionen der Insel. Papageientaucher sind überall, wo sie vorkommen, beliebt. Sie gelten als witzig, und trotz ihres nicht gerade eleganten Körpers sind sie ausgezeichnete Flieger. Und das war der Grund für das freundlich gemeinte „Bye bye“. In den ersten Augusttagen versammeln sich die Vögel in größeren Gruppen auf den Felsen, um die Insel nach der Brutperiode in Richtung der offenen Weiten des Atlantiks zu verlassen, wo sie die Wintermonate verbringen.
Auf Rathlin Island treffen sich die Bewohner und interessierten Vogelbeobachtergäste, um die Vögel zu verabschieden und sich damit für die Unterhaltung zu bedanken, die die Puffins ihnen im Sommer boten. Der Grund für den Schrecken aber hing auch mit den Vögeln zusammen. Man kann, schon weil sie als so sympathisch empfunden werden, mit ihrem Bild garantiert Aufmerksamkeit erzielen. Und zwei Tage vorher hatte der Independent einen Papageientaucher mit mehreren Sandaalen, kleinen schlanken Fischen, im Schnabel auf der Titelseite abgebildet. Darüber prangte die Schlagzeile: „Disaster at sea: global warming hits UK birds“ – die globale Erwärmung trifft britische Vögel.
Was der Independent berichtet, ist tatsächlich ein Desaster. Auf den Orkney- und Shetland-Inseln im Norden Großbritanniens hat kaum ein Seevogel in diesem Jahr Junge großgezogen. Von den 16.200 Paaren der Dreizehenmöwe, die auf Shetland in Kolonien in den Felsen brüten, war der Bruterfolg nahezu null. Die 1.200 Paare von Trottellummen im Süden Shetlands nahe den Klippen von Sumburgh Head haben nicht ein einziges Küken großgezogen. Während die 6.800 Skua-Pärchen von Shetland gerade einmal zehn Küken zur Flugreife brachten.
Die katastrophalen Zahlen für den Nachwuchs sehen für Gryllteisten, Küstenseeschwalben und Tordalke nicht viel anders aus. Unsicher sind nur die Nachwuchswerte für die Papageientaucher, was daran liegt, dass die Vögel in Höhlen brüten, in denen man weder die Eier noch die Jungen zählen kann. Zum Zeitpunkt des Independent-Artikels waren die Jungen noch nicht ausgeflogen, beziehungsweise hatten sich die Puffins noch nicht zum Abflug versammelt, eine Zählung war also noch nicht möglich. Man kann aber davon ausgehen, dass die Werte nicht viel anders ausfallen werden als bei den bereits erwähnten Arten. Denn auch Papageientaucher ernähren sich von kleinen Fischen, in der Hauptsache von den kleinen schlanken Sandaalen. Und damit ist man den Ursachen der Katastrophe schon ziemlich nah.
Sandaallarven benötigen bestimmte Wassertemperaturen, um zu überleben. Die Population der Fische ist in den letzten Jahren im Meer um die nordbritischen Inseln stetig zurückgegangen, und das in Abhängigkeit von der langsam wärmer werdenden Nordsee. In diesem Jahr sind sie allerdings das erste Mal ganz ausgeblieben. Experten wie der Leiter der Royal Society in Shetland, Peter Ellis, sehen eine direkte Verbindung zwischen der Erwärmung der Nordsee um zwei Grad in den vergangenen zwanzig Jahren und der Vernichtung der Sandaalpopulation.
Mit dem wärmer werdenden Wasser verändert sich die Planktonzusammensetzung und damit die Nahrungsgrundlage für die Folgekonsumenten in der ansteigenden Nahrungskette. Seevögel, die sich von Sandaalen ernähren, müssen längere Wege zurücklegen, um die nötige Nahrung zu finden. Reicht es nur noch für die Selbsterhaltung, brüten sie nicht mehr oder lassen ihre Brut verhungern.
Kugelig dicke Küken
Was vor den Shetlands offensichtlich bereits zur Katastrophe geführt hat, hat allerdings Rathlin Island noch nicht erreicht. Vor dem westlichen Zipfel der auf der Karte wie ein im rechten Winkel stehen gebliebener Winkelmesser mit gezackten Küstenbuchten aussehenden Insel ragen drei spitze Felsen aus dem Meer, die dicht von Seevögelnestern besetzt sind. In fast jeder der Höhlungen, Felsvorsprünge und Ausbuchtungen sitzt ein reglos weiß und kugelig dick mit Daunen bewachsenes Kittiwakeküken.
Kittiwake ist der englische Name für Dreizehenmöwe, und warum das so ist, ist hier nicht zu überhören. „Kitiwäik“ ist der Kolonieruf der Möwe, und er beschallt die Wege um die Brutfelsen. Die am westlichen Leuchtturm, der vom Land aus kaum sichtbar in die Steilküste gebaut worden ist, gelegenen Felsen sind das Wahrzeichen von Rathlin Island. Betreut vom RSPD kann man hier auf gesicherten Wegen und in sicherem Abstand Möwen, Papageientauchern und Eissturmvögeln beim An- und Abfliegen von ihren Felsennestern zusehen.
Die gut gelaunten Vertreterinnen am Stand des RSPB am Westlighthouse-Felsen signalisieren alles andere als eine Katastrophenstimmung. Obwohl auch sie eingestehen, dass das Wetter nicht normal ist.
Aber, so versichern sie, Verhältnisse wie vor der schottischen Küste würden sie für den Seevogelnachwuchs in diesem Jahr zumindest noch nicht erwarten, auch wenn sie noch keine gesicherten Zahlen hätten. Wärmer allerdings, das könne man heute ja schwer leugnen, sei es auch auf Rathlin Island geworden. Und Veränderungen gibt es auch hier. So sind in den letzten Jahren zum Beispiel einige Lachmöwenkolonien an der östlichen Küste ganz verschwunden, während die auf den Feldern und Wiesen der Insel brütenden Kiebitze extrem zurückgegangen sind. Ursächlich lassen sich diese Rückgänge aber nicht mit der Erderwärmung in Zusammenhang bringen.
Geht man aber zwischen den Schaf- und Kuhweiden im Innern der Insel auf den Hochplateaus spazieren, gibt es dort einen Hinweis auf zumindest trockeneres Klima als in den Vorjahren. So viele Hasen wie dort abends aus den Sträuchern hoppeln und sich jagen oder auch nur äsen, hat man in den deutschen Landschaften in den letzen Jahren bestimmt nicht mehr gesehen. Hasen mögen besonders im Frühjahr saftige, aber eben auch trockene Wiesen und Felder. In einem Inselführer von 1994 werden sie noch als selten bezeichnet. Das sind sie jetzt bestimmt nicht mehr. Und das wäre dann die andere Seite der prall scheinenden Sonne.