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Archiv-Artikel

Ein ganz junge Altstadt

Warschaus Wiederauferstehung aus den Ruinen begann vor 50 Jahren. Kein einziges der Gebäude ist älter als fünfzig Jahre. Dabei geht die Gründung Warschaus auf das 13. Jahrhundert zurück. 80 Prozent der Stadt wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Es blieb nichts als Schutt und Asche

Keine Probleme gabes mit dem Wiederaufbauder Kirchen

Ein paar Kinder hüpfen um den alten Leierorgelmann herum. Während er die Kurbel dreht und einige Passanten den „Roten Autobus“ gut gelaunt mitpfeifen, klettert ihm ein Äffchen über die Schulter. Ein paar Meter weiter steht auf einem Hocker eine lebende Skulptur – ein ganz in Schwarz gekleideter Sensenmann, der von Zeit zu das Glöckchen bimmeln lässt. Der Altstadtmarkt vor Warschau pulsiert vor Leben. Pferdedroschken bahnen sich den Weg, an den Tischen unter den grünen Sonnenschirmen stoßen Durstige mit Weißweinschorle an, andere sitzen einem Künstler Modell.

1980 wurde die Warschauer Altstadt in die Unesco-Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Sie ist insofern einmalig in der Welt, als kein einziges der Gebäude älter als fünfzig Jahre ist. Dabei geht die Gründung Warschaus auf das 13. Jahrhundert zurück. Von den Verwüstungen, die Kriege und Brände im Lauf der Jahrhunderte anrichteten, konnte sich die Stadt immer wieder erholen. Doch am Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Rote Armee Warschau befreite, war die Stadt nur noch ein Trümmerfeld. Das Warschauer Ghetto hatten die Nazis schon nach dem Ghettoaufstand 1943 abgefackelt. Die über 300.000 Warschauer Juden hatten sie im nahe gelegenen KZ Treblinka ermordet oder im Ghetto an Hunger und Typhus sterben lassen. Ein Jahr später, nach dem Warschauer Aufstand, der knapp 200.000 Polen das Leben kostete, evakuierten die Nazis die Stadt vollständig. Dann sprengten sie systematisch Straße um Straße, Haus um Haus. 80 Prozent der Stadt, die vor dem Krieg zu den zehn größten Metropolen Europas zählte, waren zerstört. Es blieb nichts als Schutt und Asche.

Überlegungen, die völlig verwüstete Hauptstadt nach Lodz zu verlagern oder 30 Kilometer weiter südlich aufzubauen, verwarfen die sozialistischen Machthaber schon bald. Nach einem Besuch in Moskau erklärte der spätere Präsident Polens, Boleslaw Bierut: „Stalin ist der Meinung, dass Warschau als Hauptstadt Polens so schnell wie möglich wiederaufgebaut werden soll.“ Zwei Jahre lang wurde die Stadt von Minen, Geröll und Schutt befreit. Architekten versuchten, sich anhand alter Stadtpläne, Fotos und sogar mit Hilfe der Gemälde Canalettos aus dem 18. Jahrhundert ein Bild des untergegangenen Warschaus zu machen. Zwar lehnten die Puristen unter den Stadtplanern die Rekonstruktion der Altstadt ab und legten Entwürfe für eine moderne Hochhaussiedlung vor, die von Le Corbusier und Gropius inspiriert waren. Doch in ihrer Theorie gab es keine Totalzerstörung einer Stadt, die eine ganze Nation ihrer Geschichte und Kultur beraubt hätte. Am Ende setzten sich die Anhänger des Altstadt-Wiederaufbaus durch.

1947 ging es richtig los. Aus ganz Polen wurde Baumaterial herbeigeschafft, insbesondere aus den ehemals deutschen Ostgebieten. Der Wiederaufbau Warschaus wurde in den Sechsjahresplan aufgenommen. Die Gelder flossen. Als Erstes entstanden die 42 Patrizierhäuser am Rynek (Markt) der Altstadt. Sechs Jahre später, im Juli 1953, übergab die Parteiprominenz den Warschauern wieder ihre Altstadt. „Feierlich leuchteten die bunten Fassaden unter ihren neuen Dächern“, schrieb später eine polnische Zeitschrift.

Tatsächlich hatte der Wiederaufbau der Warschauer Altstadt die von den Kommunisten erwünschte Wirkung: Er legitimierte ihre Macht. Die Bevölkerung machte sich den Slogan „Caly narod buduje swoja stolice“ (Das ganze Volk baut seine Hauptstadt) zu Eigen. Der Stolz auf das gemeinsam Erreichte wuchs im Lauf der Jahre. In den nächsten Jahren, unter Parteichef Gierek, entstanden die aus dem 16. Jahrhundert stammenden Stadtmauern neu, schließlich die Patrizierhäuser und Adelspaläste entlang der Krakauer Vorstadtstraße (Krakowskie Przedmiescie), der heute mondänsten Flaniermeile Polens, der Neuen Welt (Nowy Swiat) sowie die grüne, mit vornehmen kleinen Palais bebaute Ujazdowskie-Allee.

Keine ideologischen Probleme hatten die polnischen Kommunisten mit dem Wiederaufbau der Kirchen. Besonderen Symbolwert hat bis heute die St.-Johannes-Kathedrale, in der der polnische Literaturnobelpreisträger Henryk Sienkiewicz seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Mit seinem Roman „Quo vadis“ ist er weltberühmt geworden. Während des Warschauer Aufstandes 1944 lieferten sich hier Polen und Deutsche erbitterte Gefechte. Am Ende fuhr ein Panzer in die Kathedrale und zerschoss sie zu einem Schutthaufen. Heute erstrahlt sie wieder in altem Glanz. Wer ihre Geschichte nicht kennt, würde nie vermuten, dass die ehrwürdige und riesige Kathedrale gerade mal 50 Jahre alt ist. Die Entscheidung, auch das Königsschloss wiederaufzubauen, fiel den Kommunisten schon schwerer. Erst in den Siebzigerjahren rang sich die Partei dazu durch. Während die rund 300 rekonstruierten Patrizierhäuser allmählich Patina ansetzen und zumindest ein bisschen alt wirken, strahlt das Schloss noch immer etwas zu Neues aus.

Mit der Altstadt ist auch die Geschichte nach Warschau zurückgekehrt. Es sind die Legenden, die der Stadt etwas Mythisches geben. So die Legende von Fürst Sigismunds Statue, die schon mehrfach von ihrer Säule vor dem Königsschloss gestürzt war – vor allem, wenn in Kriegen die Granitsäule in Stücke geschossen wurde. Erstaunlicherweise hat er sich bei seinen Stürzen nie größer „verletzt“. Als die schwere Bronzefigur Anfang der 50er-Jahre wieder auf die Säule gestellt werden sollte, gab es jedoch ein Problem. Ein Parteifunktionär hatte bemerkt, dass der König mit seinem Schwert Richtung Moskau deutete. Das konnte als Drohung oder Insubordination interpretiert werden. Es gingen Telefonate hin und her. Schließlich kam die beruhigende Meldung: „Sigismund kann auf die Säule. In der Richtung liegt Krakau.“ Mit Krakau liegt Warschau seit undenklichen Zeiten im Streit. GABRIELE LESSER

Tipp: Nur in Warschau gibt es noch ein echtes Fotoplastikon aus dem 19. Jahrhundert. Seit einem Jahrzehnt dreht sich hier wieder ein dreidimensionales „Kaiserpanorama“. Man sitzt auf Holzstühlen, sieht durch ein Guckloch auf das sich langsam drehende Panaroma des alten Warschau. Aleje Jerozolimskie 51, geöffnet nur samstags und sonntags, 11 bis 14 Uhr; Eintritt: acht Zloty (zwei Euro)