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Archiv-Artikel

Mal in der Bibel lesen

Entpolitisiert oder religiös vereinnahmt? Das Rio-Reiser-Gedenk-Open-Air mit Xavier Naidoo in Fresenhagen wird‘s am diesem Wochenende erweisen

von Dirk Seifert

Seine Songs sind noch heute überall zu hören: Sei es beim Kölner oder Düsseldorfer Karneval, bei Demonstrationen mit Bambule oder Autonomen oder bei den Begegnungen sich entflammender Herzen. „Alles Lüge“, „König von Deutschland“, „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, „Schritt für Schritt ins Paradies“: All das stammt von Rio Reiser, dem einstigen Frontmann der Ton Steine Scherben.

Vor acht Jahren, am 20. August 1996 ist Rio Reiser im nordfriesischen Fresenhagen gestorben. Zum Gedenken gibt es am kommenden Wochenende an der alten Wirkungsstätte, wo Rio Reiser auch begraben liegt, ein großes Open-Air mit Stoppok, Fehlfarben, Marianne Rosenberg und den Söhnen Mannheims samt Xavier Naidoo.

Im vergangenen Herbst hatten sich diese und andere KünstlerInnen zum Familienalbum, einer Hommage an Rio Reiser, zusammengefunden. Ein Album, an dem es viel Kritik gab. Vor allem der erste Drummer der Scherben, Wolfgang Seidel, hatte bezweifelt, dass diese KünstlerInnen zur Scherben-Familie gezählt werden dürften. Irgendwo zwischen Deutschtümelei und Entpolitisierung verortete er dieses Werk, dessen einzige Klammer die deutsche Sprache war. Und nirgends werde über die politische Botschaft Rio Reisers oder der Scherben gesprochen.

Diese Kritik richtet sich auch gegen die beiden Vereine, die deren Erbe verwalten. Das ist einmal das Rio Reiser Archiv, das Tonbänder und Bildmaterialien aufbereitet und daraus CDs mit Reiser-Songs gemacht hat. Dann gibt es noch den Verein Rio Reiser Haus, der das ehemalige Scherben-Haus erhalten will. Zentrale Figuren dabei: Peter und Gert Möbius, Reisers Brüder.

Stark kritisiert wurden auch die von ihnen organisierten Songwettbewerbe 2001 und 2003. Der erste trug zum Beispiel das sehr unglückliche Motto „Heimat“. Noch schärfer fiel die Kritik im letzten Jahr aus, als der Wettbewerb unter dem Motto „Ich will ich sein“ gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Verein Deutsche Sprache (VDS) durchgeführt wurde. Die Beteiligung des VDS, der angesichts der Übernahme fremdsprachiger Ausdrücke ins Deutsche von „kultureller Selbstaufgabe“ spricht, passt so gar nicht ins Bild. Kein Wunder also, dass die beiden Vereine verdächtigt werden, an der Entpolitisierung Rio Reisers und der Scherben mitzuwirken, und „Deutschtümelei“ zu betreiben.

So richtig solche Kritik im Ansatz auch ist: Diejenigen, die sie vortragen, basteln an einem anderen Mythos Rio Reisers und der Scherben, der an Geschichtsklitterung grenzt. Wolfgang Seidel erklärt die Philosophie der Scherben mit Hilfe eines Reiser-Statements: »Musik kann zur gemeinsamen Waffe werden, wenn du auf der Seite der Leute stehst, für die du Musik machst. (...)“.

Ob Rio und die Scherben das auch nach ihrer Flucht vor dem Berliner Politik-Aktivismus nach Fresenhagen so gesehen haben, ist zweifelhaft. Und schon damals waren die Scherben Verratsvorwürfen ausgesetzt – etwa, als 1975 das Album Wenn die Nacht am tiefsten erschien oder als Reiser 1986 den Vertrag bei Sony unterschrieb und den Song „König von Deutschland“ in die deutschen Charts brachte.

Wenn Seidel den Söhnen Mannheims und deren Neufassung von „Mein Name ist Mensch“ jetzt vorwirft, sie wollten den Song religiös vereinnahmen, dann vergisst er, dass Rio seit seinem zwölften Lebensjahr täglich in der Bibel las und sich in den Songs der Scherben etliche biblische Anspielungen finden. Dass die Söhne Mannheims diesen Faden aufnehmen, ist da geradezu folgerichtig und eher ein Hinweis darauf, dass die Linke sich um diesen Aspekt mal kümmern sollte. Denn die Geschichte von Rio Reiser und den Scherben ist viel komplexer, als mancher wahrhaben will.

Was das kommende Wochenende in Fresenhagen angeht, sei noch auf einen Leckerbissen verwiesen: Da bei den Waldbränden in Portugal auch das Haus vom nach Rio Reiser wichtigsten Kopf der Band und Gitarristen R.P.S. Lanrue zerstört wurde, haben sich einige alte Scherben für einen Benefizauftritt zusammengetan. Unter dem Namen Ton Steine Scherben Family spielen am Samstag Funky K. Götzner (Schlagzeug), Kai Kivondo (Ex- Sichtermann, Bass), Marius del Mestre (Gitarre, Gesang), Dirk Schlömer (Gitarre). Das wird was.

„Mein Name ist Mensch“: Rio Reiser Open Air in Fresenhagen. 20. 8., 19 Uhr: Bremer Shakespeare Company, die Kap`n Kaos Band, Stoppok, die Söhne Mannheims und Marianne Rosenberg. 21. 8., 16 Uhr: Junges Theater Göttingen, Sven Panne, Keimzeit, Fehlfarben, Ton Steine Scherben Family (mit Funky K. Götzner, Kai Kivondo, Marius del Mestre, Dirk Schlömer)