: „Das Leben soll sprechen“
Ein Interview mit dem russischen Regisseur Aleksei Popogrebski über sein Roadmovie „Koktebel“, das Konzept der vergessenen Kamera und das günstige Preis-Leistungs-Verhältnis von Wodka
INTERVIEW KIRA TASZMAN
taz: Herr Popogrebski, nach „Die Rückkehr“ und Aleksandr Sokurows „Vater und Sohn“ ist „Koktebel“ der dritte russische Vater-Sohn-Film innerhalb kurzer Zeit. Ist diese Beziehung eine Obsession russischer Regisseure?
Aleksei Popogrebski: Diese Frage wird uns in Russland andauernd gestellt, und wir beantworten sie immer gleich: Wir haben keine Ahnung. Unsere Story stammt von 1995. „Die Rückkehr“ war zuerst ganz anders konzipiert. Zwei Gangster sollten sich auf einem New Yorker Balkon an Erlebnisse ihrer Kindheit mit ihrem Vater erinnern. Sokurows Film ist eine Fortführung seiner Trilogie, davor war es „Mutter und Sohn“. Alle wurden zu unterschiedlichen Zeitpunkten entwickelt, sind aber zufällig im selben Jahr als Filme herausgekommen.
Warum haben Sie sich für das Genre des Roadmovies entschieden?
Wir wollten dieses Genre nicht unbedingt bedienen. Für uns ging es nur um die Vater-Sohn-Beziehung. Sie wurde aus einem einzigen Bild heraus geboren: Vater und Sohn sitzen in einem Güterwagen und fahren irgendwohin. Ich bin gelernter Psychologe, Boris ist Filmtheoretiker. Also sind wir beide nicht fürs Skriptschreiben ausgebildet. Aber es entwickelte sich wie von selbst. Wie ein Baby im Mutterleib.
„Koktebel“ ist klassisch gefilmt, nicht wie andere neue russische Filme, die digital gedreht wurden und allerlei Kameraextravaganzen aufweisen.
Zusammen mit unserem Kameramann Sandor Berkesi haben wir uns die so genannte Vergessene Kamera ausgedacht. Man stellt eine Kamera hin, und nichts geschieht. Vielleicht kommt ein Tier ins Bild, eine Person. Oder ein Auto, wie bei der ersten Einstellung des Films. Das ist wie beim Dokumentarfilm, und es war unsere Vorstellung vom Stil des Films. Wir haben uns zwar nicht hundertprozentig daran gehalten. Für einige Sequenzen haben wir die Handkamera und eine schnellere Schnitttechnik benutzt. Aber der Gedanke war, das Leben selbst von der Leinwand aus sprechen zu lassen. Nicht einzugreifen oder zu manipulieren.
„Koktebel“ entwirft kein sonderlich schmeichelhaftes Russlandbild.
Aber es gibt keine einzige wirklich negative Figur im Film! Selbst der alte Mann, der die beiden aus dem Haus wirft, ist nicht wirklich schlecht. Alle sind Individuen: der Fahrer, die Frau, der alte Mann. Wenn jemand nach Russland reist und sich auf die Leute dort einlässt, wird er ein besseres Gespür für die russischen Menschen bekommen. Sie mögen nach außen hin etwas schroff sein, aber sie sind sehr hilfsbereit.
Ist das Nomadenleben von Vater und Sohn, die von Moskau quer durch Russland auf die Krim fahren, eine Metapher für neue Freiheiten in Russland?
Wir können mit Metaphern nicht viel anfangen. Auch Symbolisches oder Ideologisches war für uns nicht relevant. Wir konzentrierten uns von Anfang an auf die Vater-Sohn-Beziehung. Wir wollen Gefühle und Sinneswahrnehmungen vermitteln. Mit den neuen russischen Filmen über die Neureichen haben wir nicht viel am Hut. Wir machen lieber Filme über echte Menschen.
Der alkoholkranke Vater wird in „Koktebel“ rückfällig. Ist Alkoholexzess eine typisch russische Krankheit?
Für manche Menschen ist es eine Krankheit. Im Film zerstört sie das Leben des Vaters. Ich glaube nicht, dass Alkohol das Problem ist, sondern die Ausweglosigkeit der Leute. Wodka war in Russland schon immer die beste Lösung für Probleme, vor allem in der Provinz. Andererseits ist Alkohol ein wichtiger Bestandteil der russischen Kultur, des sozialen Lebens. Man trifft sich in der Küche mit Freunden und trinkt. Das ist eine große sowjetische Tradition. Außerdem hat Wodka ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis.
Wie stehen Sie als junge Filmemacher heute finanziell in Russland da?
Wir haben den gesamten Film von der russischen staatlichen Filmförderung finanziert bekommen, auch als wir das Budget, das aber mit einer halben Million Dollar nicht hoch war, überschritten haben. Andere Filmemacher bekommen diese Unterstützung ebenfalls, also ist die Situation wirklich gut.
Heißt das, dass es keine ökonomische Zensur gibt, die die ideologische von früher ersetzt hat?
Die Zeiten haben sich geändert. Zu Sowjetzeiten hatte Tarkowski zum Beispiel so eine Märtyreraura, dass er furchtbar unterdrückt wurde und von der Regierung zum Ausgestoßenen gemacht wurde. Aber gucken Sie sich die enormen Budgets an, die er dann auch noch überschritten hat, für „Andrej Rubljow“ oder „Solaris“. Dieser verfolgte und unterdrückte Künstler bekam Millionen von Dollar für seine Filme.
Aber viele seiner Filme wurden in der Sowjetunion nicht gezeigt.
Das stimmt auch wieder. Jetzt gibt es schon eine Art ökonomischer Zensur. Vor zwei Jahren wäre „Koktebel“ in Russland nie herausgekommen, denn der Marktanteil für russische Filme war sehr gering. Aleksandr Sokurow, der weltberühmt ist, hatte weniger Kopien für seinen Film als „Koktebel“. Wir hatten ungefähr 15 Kopien, was für einen Low-Budget-Arthouse-Film sehr gut ist. Mehrere Kinos in Moskau und Sankt Petersburg haben ihn gespielt und fast alle anderen Städte mit einer Million Einwohner.
Wie steht das einheimische Kino derzeit generell in Russland da?
Vor sechs, sieben Jahren ging in Russland kein Mensch ins Kino. Das war als Freizeitvergnügen mit der Freundin nicht angesagt. Mittlerweile sind nicht nur in Moskau die Kinos technisch auf dem neuesten Stand, auch die Provinz holt auf. Im vergangenen Jahr wurden auch wieder mehr russische Filme geguckt, russische Blockbuster wie „Boomer“ oder „Anti-Killer“. Natürlich ist der Marktanteil von Arthouse-Filmen noch gering. Aber vielleicht wird sich das bald ändern, auch mit unseren Filmen.
„Koktebel“. Regie: Boris Chlebnikov, Alexej Popogrebskij. Mit Gleb Puskepalis, Igor Tschernewitsch u. a., Russland 2003, 105 Min.