: Das vertrocknete Paradies
aus Amara und Suq us-Shuyukh INGA ROGG
Südlich von Amara beginnt die Hölle. Heiß wie ein Dampfstrahler bläst der Wind. Binnen weniger Minuten verwandeln sich der Schweiß und Staub im Gesicht zu einer beißenden Schicht. Es muss ein hartes Los sein, das jemanden zwingt, hier sein Auskommen zu suchen. Unter einer Brücke an der vierspurigen Schnellstraße, die von Amara nach Basra führt, haben ein Alter und sein Enkel ihren kleinen Verkaufsstand aufgeschlagen. Die Augen mit einer Taucherbrille geschützt, hockt der Alte da und bietet den Vorbeifahrenden Softdrinks, Kekse und Kaugummis an. Viel bringe der Kleinhandel nicht, sagt er. Aber es sei eine ordentliche Arbeit und immer noch besser als nichts. Früher lebte er wie die meisten in der Region vom Fischfang, doch davon ist ihm nichts geblieben.
Grau erstreckt sich die Ebene hinter den beiden verlassenen Gestalten. Grau wie Asche. Hin und wieder ist im Nichts eine Ziegelbrennerei zu sehen, die dunkle Rauchschwaden in die Luft stößt. Sonst gibt es in der Einöde nur die Erdwälle verlassener Artilleriestellungen, mit denen das ehemalige Saddam-Regime weite Teile des Zweistromlandes in eine Kriegslandschaft verwandelt hat. In die Moderne wollte der Diktator die Bewohnern hier führen. Gebracht hat er ihnen Tristesse, Not und Verzweiflung.
Bis in die 80er-Jahre durchzog ein unüberschaubares Gewirr von Seen, Sümpfen und Wasserarmen das Gebiet um Tigris und Euphrat, das sich von Iran über Amara und Basra bis in den Westen nach Nasseriye hinzieht. In biblischer Zeit soll sich hier das Paradies befunden haben, so sagen es zumindest die Theologen. Unbestritten ist das Gebiet eine der ältesten Kulturlandschaften der Menschheit. Sumerische Tafeln zeigen die gewölbten Häuser aus Schilf, wie sie für die Bewohner Region, die Madan oder Sumpfaraber, lange Zeit typisch waren. Sie waren es auch, die den Büffel in Südwestasien heimisch machten. Darüber hinaus bot das weltweit einmalige Ökosystem, das sich bis Anfang der 70er-Jahre über 9.000 Quadratkilometer erstreckte, seltenen Vogel- und Otterarten Schutz. Daran erinnert heute nur noch eine Wandgemälde an der früheren Niederlassung der Baath-Partei in Amara, das jetzt eine Vertretung von Abdulkerim al-Mohammedawis beherbergt, des „Herrn der Sümpfe“.
Jahrelang hatte Mohammedawi mit seiner schlecht ausgerüsteten Truppe in den Sümpfen den Häschern des irakischen Regimes die Stirn geboten. Abu Hatem, der Vater von Hatem, nannte er sich damals und hatte manchmal kaum mehr als seine Überzeugung, die er gegen seine Verfolger zum Einsatz bringen konnte. Dass er das einfache Fußvolk des Regimes verschonte und seine Angriffe gegen besonders verhasste Funktionäre richtete, hat ihm den Ruf des gerechten Rächers eingebracht – ein Robin Hood der Sümpfe. Seine Partei nennt sich Hisbollah (Partei Gottes), doch darin sehen selbst die wenigen noch verbliebenen Linken am Ort weniger ein Zeichen von islamischem Fundamentalismus als vielmehr einen Tribut an die Frömmigkeit der Schiiten. Heute vertritt der „Herr der Sümpfe“, wie ihn die Briten nennen, seine Region im irakischen Regierungsrat.
Der Niedergang der Region begann in den 50er-Jahren mit dem Bau der ersten Staudämme an den Oberläufen von Euphrat und Tigris sowie an deren Zuflüssen in Iran. Während des Kriegs mit dem Nachbarland Iran in den 80er-Jahren legte das Regime einen Großteil des zentralen Sumpfgebiets südlich von Amara trocken, um Land für den Transport seiner Armee zu gewinnen und der islamischen Widerstandsorganisationen, die unter den Sumpfbewohnern viele Anhänger hatte, sowie den Armeedeserteuren die Rückzugswege abzuschneiden. Um die Bewohner zum Wegzug zu zwingen, wurden ihnen die staatlichen Lebensmittelkarten entzogen. Nur das östliche Sumpfland blieb davon wegen seiner Grenznähe verschont. Das endgültige Aus kam nach dem Golfkrieg 1991, als die Schiiten im Süden dem Ruf von Bush senior folgten und sich gegen die Diktatur erhoben.
Wie schon mit den Kurden drei Jahre zuvor kannte das Regime auch mit den aufständischen Schiiten keine Gnade. Wie viele Menschen damals ermordet wurden, weiß man bis heute nicht. Doch die bislang aufgefundenen Massengräber legen nahe, dass die Zahl in die Zehntausende geht. Unterschiedslos richteten die Schergen von Saddam Aufständische, Frauen und Kinder hin. In der verzweifelten Suche nach ihren seit Jahren vermissten Angehörigen, fuhren Familien in den ersten Wochen nach Kriegsende oft hunderte von Kilometern, um selbst nach den sterblichen Überresten zu graben. Schiitische Geistliche haben daraufhin die Bevölkerung aufgerufen, die Gräber nicht anzutasten, um die forensischen Beweise für die geplanten Prozesse gegen die mutmaßlichen Verantwortlichen nicht zu zerstören. Einer der Ruchlosesten war Ali Hassan al-Madschid, der vor einer Woche gefasste Cousin von Saddam Hussein. Wo immer der Despot einen Mann fürs Grobe brauchte, war sein Vetter zur Stelle. Vom einfachen Fahrer für die Baath-Partei stieg er in den 70er-Jahren in den engeren Führungszirkel der Partei auf. Seine Verantwortung für den Giftgaseinsatz gegen die kurdisch Stadt Halabdscha, bei dem 5.000 Menschen starben, trug ihm bei den Kurden den Beinamen Giftgas-Ali ein. Später ernannte ihn Saddam zum Gouverneur von Kuwait, und nach dem Golfkrieg befehligte er zusammen mit dem im Juli getöteten Saddam-Sohn Kusai die Niederschlagung der schiitischen Aufstände. Doch al-Madschid war nicht nur der Befehlsgeber für einige der im Zweistromland begangenen Verbrechen. Er schreckte auch persönlich vor keinem Gewaltakt zurück, das zeigen Filmaufnahmen, die heute im ganzen Land im Umlauf sind. Auf einer sieht man ihn, wie er ein am Boden liegendes Opfer mit Stiefeln tritt. Auf einer anderen schlägt er einem vor ihm knienden Soldaten brutal ins Gesicht und erschießt ihn im nächsten Augenblick.
Kaum hatte das Grauen ein Ende, feierte Saddam den Sieg auf seine Art. An der Kreuzung, die von Nasseriya in das Sumpfgebiet nordwestlich von Basra führt, steht eine überdimensionale Soldatenstatue in Georgsgestalt, die dem Drachen das Schwert in den Rachen stößt. In einem groß angelegten Projekt wurden die Zuflüsse des Tigris in den 90er-Jahren in Kanäle umgeleitet, von den Sümpfen, die sich in den wasserreichen Monaten auf bis zu 20.000 Quadratkilometer erstreckten, existierten am Ende nach einem UNO-Bericht nur mehr knapp 1.300 Quadratkilometer. Aus der Rückständigkeit wollte der Despot die Madan befreien. Übrig blieb ein verödetes, von einer Salzkruste bedecktes Land. Mehrere zehntausend Bewohner leben heute in Flüchtlingslagern in Iran.
„Saddam hatte in seinen Palästen vergoldete Wasserhähne, und wir hatten nicht einmal Trinkwasser“, sagt Shakir Radhi. Ein schmaler Weg aus Sandsäcken führt zu seinem Hof südlich von Suq ush-Shuyukh. Erst seit einigen Monaten haben er und seine Familie wieder Zugang zu sauberem Wasser. Dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes ist es gelungen, die Trinkwasserversorgung teilweise wiederherzustellen. Nirgendwo ist die Zahl der chronischen Diarrhöerkrankungen und Mangelerscheinungen so hoch wie hier im Süden. Shakirs größter Traum, der wegen seiner Sympathien für die islamische Dawa-Partei mehrere Monate in Haft saß und dessen älterer Bruder hingerichtet wurde, ging im April in Erfüllung. Mit Baggern rissen Bewohner der Region die Dämme ein und fluteten das Gebiet. Dass die Türkei die Wasserblockade gegenüber seinem südlichen Nachbarn lockerte, hat den Wasserfluss zudem begünstigt. Wie auf Inseln schwimmen die Häuser entlang der Straße, die zu seinem Anwesen führt. Ein Flakgeschütz versinkt allmählich im Wasser. Hin und wieder kann man in der Ferne Schiffer in ihren typischen schmalen Holzbooten sehen. Neben dem Trampelpfad, der zu dem Anwesen führt, suhlen sich fünf Büffel im seichten Wasser. Ein Segen für die Familie, die bis vor kurzem noch in bitterer Armut lebte. Sie liefern ihr die Milch zur Herstellung des Frischkäses, für den sich auf dem Markt gute Preise erzielen lassen. Im Schilf, das schon wieder knapp zwei Meter hoch steht, tummeln sich Vögel. Freundlich grüßt er, der Tiefgläubige, eine vorbeifahrende amerikanische Militärpatrouille.
Ein friedliches Idyll in einer weiten Ebene von Trostlosigkeit. Geht es nach dem Willen der Iraq Foundation, sollen die gesamten Sümpfe in ihren Ursprungszustand versetzt worden. Die italienische Regierung hat dafür 1,2 Millionen Euro bereitgestellt. Doch paradiesisch war das Leben in den Sümpfen wohl nie. In schwarze Röcke gehüllt, das Gesicht bis auf die Augen verdeckt, wäscht Shakirs Frau Meryam in einem Zuber von Hand die Wäsche. Erst nach einigem Zureden schließt sie sich der Gesprächsrunde an. „Kommen Sie ins Haus, dann sehen Sie, wie beschwerlich unser Leben ist“, fordert sie die Reporterin auf. Ein Schrank für die Matratzen und Wäsche sind ihr wertvollster Besitz, kochen muss sie auf einer kleinen Feuerstelle in einem düsteren Raum. „Ich habe in meinen Leben nichts anderes als Unterdrückung erlebt“, sagt Meryam Khale. Und sie meint damit nicht nur Saddam. Nie hat sie eine Schule besucht, und verheiratet wurde sie, da war sie fast noch ein Kind. So geht es vielen Frauen in dieser Region, in der die konservativen Stammestraditionen stark sind. Aus der Enge dieser Welt sind viele Frauen und Mädchen in den vergangenen Jahren in die Städte geflohen, wo sie sich dann als Tagelöhnerinnen oder Prostituierte durchschlagen. So sehr Meryam die Wiederbelebung der Sümpfe begrüßt, so sehr hofft sie aber auch auf ein Leben ohne die Mühsal früherer Jahre.
Bis dahin ist es ein weiter Weg. Unter den Sümpfen lagert Öl, der wichtigste Wirtschaftsfaktor für das Zweistromland. Große Gebiete sind durch Munition aus den Kriegen und die Abwässer aus den petrochemischen Fabriken weiter nördlich verseucht. Shakir und Meryam haben einen Neuanfang gewagt. Für viele andere wird es hingegen wohl noch Jahre dauern.