Wegen Hilfe für Illegale vor Gericht

Zwei Menschenrechtler sind in Frankreich angeklagt, weil sie Flüchtlingen in der Region des ehemaligen Durchgangslagers Sangatte helfen. Jetzt drohen ihnen Strafen bis zu fünf Jahre Haft. Vor Ort darf sich niemand um die Gestrandeten kümmern

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

„Beihilfe zum illegalen Aufenthalt“ lautet der Vorwurf gegen die beiden Männer. Ihnen drohen bis zu fünf Jahre Gefängnis. Seit gestern sitzen Jean-Claude Lenoir und Charles Frammezelle im nordfranzösischen Boulogne-sur-Mer auf der Anklagebank. Ihr Delikt: Sie haben Flüchtlinge, die auf der Straße herumirrten, bei sich übernachten lassen. Haben ihnen zu einer Dusche und zu Essen verholfen. Und haben ihr Konto zur Verfügung gestellt, damit sich dieselben Flüchtlinge Geld von ihren Familien aus Afghanistan und dem Irak überweisen lassen konnten.

„Wenn das Gesetz im Widerspruch zur Moral steht, muss man sich entscheiden“, sagt der angeklagte Lehrer Lenoir. Und auch Frammezelle, der wegen seines eindrucksvollen Schnäuzers „Moustache“ genannt wird, zeigt keine Reue: „Ich würde es jederzeit wieder tun.“

Die beiden Männer sind in der Hilfsorganisation „C-Sur“ aktiv. Als das Durchgangslager „Sangatte“ auf der französischen Seite des Ärmelkanals noch existierte, betreuten sie einige der 68.000 Flüchtlinge, die dort vorübergehend Unterschlupf auf ihrem gefährlichen Weg nach Großbritannien gefunden hatten.

Ende 2002 wurde das Lager geschlossen. Seither ist das Leben für die Flüchtlinge in der Region noch härter geworden. Wie vor der Eröffnung des Rot-Kreuz-Lagers im Jahr 1999 hausen sie wieder in Parks, Bunkern aus dem Zweiten Weltkrieg und notdürftig zusammengezimmerten Hütten. Wie zur Zeit des Durchgangslagers versuchen die kräftigsten unter ihnen nachts, auf fahrende Züge aufzuspringen. Andere schlüpfen unter die Planen parkender Lkw oder verstecken sich an Bord von Fährschiffen, die nach Großbritannien fahren. Fast immer werden die Flüchtlinge entdeckt, bevor ihre Reise überhaupt beginnt. Immer wieder brennt die Polizei die Hütten der Flüchtlinge ab und räuchert die Bunker mit Tränengas aus. Und vertreibt die Flüchtlinge so ein paar Kilometer weiter. Zum Beispiel in den Park gegenüber der Schule in Calais, an der Lenoir unterrichtet. Auf dem Weg zur Arbeit sieht er dort öfter junge Kosovo-Albaner, die von der Polizei verjagt werden.

Wie viele MenschenrechtlerInnen in der Region haben Lenoir und „Moustache“ ihr Engagement fortgesetzt, nachdem das Lager Sangatte geschlossen wurde. Gegenwärtig irren Hunderte, wenn nicht Tausende Obdachlose durch die Region. Besonders viele aus dem Sudan. Aber weiterhin auch Menschen aus Afghanistan und dem Irak.

„Solidarität ist kein Delikt“, skandierten gestern Morgen DemonstrantInnen in Boulogne-sur-Mer. Und die Migrantenorganisation Gisti (www.gisti.org) sammelt Unterschriften für eine Petition, in der man sich selbst der Bereitschaft zu krimineller Solidarität bezichtigen kann.

Die Schließung von Sangatte war eine typische Problemlösung des damaligen Innenministers Sarkozy. Er betrachtete die Angelegenheit damit als erledigt. Für die Flüchtlinge war es das nicht. Der Unterschied ist, dass sich seither in Frankreich niemand mehr um sie kümmern darf. Außer der Polizei.