Die Engel mit den Zombieaugen

Die Basler Elisabethenkirche wirkt dann doch nur wie ein atmosphärisches Accessoire: Der neue Schauspieldirektor Lars-Ole Walburg eröffnet die Theatersaison auf weihevollem Boden mit „Faust“, der Tragödie erster Teil

Ein Neuanfang auf weihevollem Boden: Der neue Basler Schauspieldirektor Lars-Ole Walburg hat sich für die Eröffnung des Theaters ausgerechnet „Faust I“. ausgesucht, das große deutsche Nationalepos, und spielt es in der Basler Elisabethenkirche, gewissermaßen an den christlichen Dramenwurzeln. Auf neutralem Schweizer Boden muss man Verstrickungen in die Faustrezeption nicht fürchten – nur vielleicht ein bisschen den direkten Vergleich zum Vorgänger und einstigen Chef Stefan Bachmann. Vielleicht wurde deshalb die erhabene Spielstätte gefunden? Die Kirchenfenster leuchten, steinerne Wände führen hoch ins Dunkle, gotische Schnitzereien im Chor lösen ehrfürchtiges Frösteln aus – und haben doch etwas vom atmosphärischen Accessoire.

„Faust I“ in der Kirche hat den Bühnenbildetat geschont, denn auch in Basel muss gespart werden. Ohnehin wüsste man nicht, wie ein Bühnenbild des so unendlich bebilderten Dramas heute noch aussehen könnte. So liegt vor uns lediglich ein Laufsteg in Kreuzform, atmosphärisch ergänzt durch Licht (Ulrich Schneider) und raunende Soundeffekte (Cornelius Borgolte). Über uns, im orgelumbrausten Kirchengewölbe, tut sich das Gottesreich auf, doch selbst die Engel haben fluoreszierende Zombieaugen und Springerstiefel unter den weißen Kleidern – der Himmel ist ein zwiespältiges Unternehmen, wenn es seine Geschöpfe verwettet. Auf der Erde ist es nicht weniger unheimlich, dort dröhnen Rammstein „Ich will“ durch das Kirchenschiff. Hybris und Habgier sind die Übel der Menschheit, das hat Walburg auch im Programmheft klargestellt und lässt eine aerobictanzende Ärzteschar Bilder mit Atompilzen, Klonschafen und Mondraketen ins Publikum halten. Doch dann verwandelt sich der „Faust“ in eine volkstümliche Schlacht des Guten gegen das Böse, und auch wir fühlen uns wie auf dem Tennisplatz, wenn die Figuren aus weiten Fernen miteinander sprechen.

Klaus Brömmelmeier stolpert als Mephisto lautstark in SS-Hosen, Fellmantel und Schnürschuhen auf den Laufsteg und sprüht vor Witz und Geschmeidigkeit. Jörg Schröder als Faust lässt sich seine Monologe auf der Zunge zergehen und ist doch ein wütender Koloss. Ein dicker, alter Mann, dem etwas vorenthalten wurde, nur was? Angewidert von der Tennisjugend, die sich auf dem Plastikrasen vor dem Tor lümmelt, nicht befriedigt von dem Haufen Büchern, erhebt er seine Stimme zur allgemeinen Weltanklage. Dass er sich von der Komikfigur Mephisto verführen lässt, ist schwer zu begreifen, aber immerhin ein Ausweg. Auf zwei Kanzeln stehen sie sich gegenüber, die Herren ihrer Welten, und versuchen sich zu überzeugen, während schon die Erdgeister in dichtem Nebel aus der Kirchentür quellen. Hexenküche und Walpurgisnacht sind eine Zombieshow, der Verjüngungstrunk wird von einem devoten Transvestiten gereicht. Endlich versinken Faust und Mephisto im Bruderkuss, während Rammstein dumpfen Rausch orchestrieren.

Nach der Pause haben Faust und Mephisto die Schauspieler gewechselt – endlich kann Faust den Mephisto in sich und so richtig die Sau rauslassen und hält der mephistophelischen Menschheit ihren Zerrspiegel vor. Klaus Brömmelmeiers Faust sieht nun aus wie ein arbeitsloser Medienarbeiter im schlackernden Anzug, Jörg Schneiders Mephisto dagegen legt jede Rumpelstilzchen-Attitüde ab und wird zum Satan schlechthin, bullig, böse, Einpeitscher von Sexorgien und Satansmessen.

Doch im Grunde hätte Walburg seinen „Faust“ auch „Gretchen“ nennen können. Sandra Hüller trägt das Elend der Welt auf ihrem gekrümmten Rücken, zittert grau und findet dabei doch jenen ungestümen, authentischen Liebreiz, für den sie gerade Nachwuchsschauspielerin des Jahres wurde. Mit Faust begegnet sie dem Unerhörten. Erst schlafwandlerisch zart, dann mit lauten Schreien und wütenden Liebesgesten, stürzt sie sich auf ihn und mitten ins Verderben – das ist ungeheuer anrührend und traurig. Vor unseren Augen röchelt Gretchens Mutter in den Gifttod, stirbt ihr Bruder am Messer.

Gretchen ist ohne Hoffnung und Faust schon auf dem Weg ins Offene, zur Opiumpfeife, nach der er sich pflichtgemäß dem satanischen Taumel ergibt. Mit Kot befleckt, penetriert er Jungfrauen in Reihe auf dem Altar, während ein Todesengel seinen riesenhaften Schatten auf die Nordwand wirft – drastische Bilder, die unangenehm deutlich werden. Doch trotz des großen Bösen in der Welt findet Gretchen zu neuer Kraft, und als sie ihren Heinrich immer wieder nach Gott befragt, nie lockerlässt und kaum versteht, hat sie ihre stärkste Szene, auch wenn sie Heinrich gerade eine Plastiktüte mit ihrem toten Kind vor die Füße gelegt hat. In der Kerkerszene, radikal gekürzt, erstarkt die Vereinsamte zu neuer Kraft und wird von den zwielichtigen Engeln mit schimmernden Augen errettet, anstatt mit Heinrich die Flucht anzutreten.

Möglicherweise fängt Walburg bewusst dort an, wo Bachmanns „Seidener Schuh“ in der letzten Spielzeit aufhörte: Mit einer volkstümlichen, anrührenden, quasireligiösen Wendung zu letzten Dingen, zu einem plakativen Kampf des Guten gegen das Böse und einer großen Verbeugung an den radikal verkürzten und doch unzerstörbaren Text. Doch was will er uns damit erklären? In zwei Wochen kommt der Tragödie zweiter Teil – von einem anderen Basler Regisseur.

DOROTHEA MARCUS