Akademiker leiden weiter unter Praxisschock

Bildungsministerin Edelgard Bulmahn hatte schon Entwarnung gegeben. Aber Uniabsolventen fühlen sich schlecht auf den Berufsalltag vorbereitet. Nur ihr Methodenwissen ist ok – und die Ministerin überinterpretiert das Selbstlob

BERLIN taz ■ Nach dem Examen sehen sich Jungakademiker im Beruf oft extremen Stressanforderungen ausgesetzt. Das Phänomen heißt Praxisschock und gehört zum Studium wie die zerschnitzte Seminarbank. Mit dem Schrecken vor dem Arbeitsalltag soll jetzt Schluss sein – wenn man Bildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) glaubt. „Studierende sehen sich gut vorbereitet auf Berufstätigkeit“, verkündet die Wissensbeauftragte des Kanzlers und beruft sich auf eine Studie der Hochschul-Informationssystem (HIS) GmbH.

Leider passt die Bulmahn’sche Sichtweise so gar nicht zu einer Untersuchung desselben Instituts zum selben Thema. Im Gegenteil: Exstudierende finden, dass die Unis viel graue Theorie, aber ganz wenig Praxisbezug vermitteln. Überwältigende 80 Prozent der Befragten waren erst im April dieser Ansicht.

„Es kommt darauf an, wie man auf die aktuellen Ergebnisse schaut“, versucht Kolja Briedis die eigenwillige ministerielle Lesart zu erklären. Briedis arbeitet bei den Hannoveraner Hochschulinformanten und hat an beiden Studien mitgewirkt. Richtig sei, dass nahezu drei Viertel bei der jüngsten Umfrage die an der Uni gelehrten methodischen Kompetenzen hoch einschätzten. Das heiße aber nicht automatisch, dass damit Berufsfähigkeit und Praxisbezug gewährleistet seien. Denn: Bezieht man Fachwissen, Präsentationsgeschick und Sozialkompetenzen mit ein, „relativiert sich das Bild“.

8.100 AbsolventInnen von Unis und Fachhochschulen hat er ein Jahr nach ihrem Examen befragt. Eine überwiegende Mehrheit von 73 Prozent sieht beinahe Deckungsgleichheit zwischen dem an Universitten und Fachhochschulen gelehrten und dem im Beruf erwarteten Methodenwissen.

Hätte Bulmahn genauer hingeschaut, hätte sie freilich auch in der jüngsten HIS-Untersuchung ernüchternde Ergebnisse finden können: Sozial- und Präsentationsfähigkeit der Studis sind schwach ausgeprägt. Auch hapert es an Fremdsprachen-, Rechts- und Wirtschaftskenntnissen. Und, bitter für Bulmahn: „Die Fähigkeit, wissenschaftliche Ergebnisse und Konzepte praktisch umzusetzen“, sei bei Jungakademikern ungenügend. So heißt es in der Zusammenfassung der hundert Seiten starken Studie.

Die Defizite ermittelten die Wissenschaftler, indem sie die im Studium erworbenen mit vom Berufsalltag erwarteten Fähigkeiten gegenrechneten. Bulmahn hingegen reicht es schon, wenn StudentInnen ihre methodischen Kompetenzen gut bewerten – der Rest ist Schweigen.

Dabei ist die Lage in Wahrheit nicht gut. Denn AkademikerInnen mit Staatsexamen erzielen besonders schlechte Ergebnisse. Im Klartext: Angehende Rechtsanwälte, LehrerInnen und Mediziner fühlen sich für ihren Berufsalltag ungenügend ausgebildet – in allen Kompetenzbereichen. INES KURSCHAT