Freispruch für Therapeuten

Ende 2000 stürmte Polizei in eine Beratungsstelle für Flüchtlinge. Gesuchter Kurde sprang aus dem Fenster. Angeklagt wurde wegen Widerstands der Leiter des Büros. Gestern wurde er freigesprochen

von PLUTONIA PLARRE

Der Fall hatte weit über Berlin hinaus Aufsehen erregt. Aus Angst vor Polizei und Abschiebung war ein 17-jähriger Kurde im November 2000 aus dem Fenster der psychotherapeutschen Beratungsstelle für politisch Verfolgte Xenion gesprungen. Wie durch ein Wunder hatte der Jugendliche nicht nur überlebt, sondern hat auf Dauer Asyl in Deutschland bekommen. Der Leiter der Beratungsstelle, Dietrich Koch, dagegen wurde nun drei Jahre später wegen des Vorwurfs vor den Kadi gezehrt, der Polizei seinerzeit den Zutritt zu den Praxisräumen verweigert zu haben. Gestern erging das Urteil. In seltener Einmütigkeit kamen Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Gericht zu dem Schluss, dass Koch und dessen mitangeklagte damalige Sekretärin vom Vorwurf des Widerstands freizusprechen seien.

Die zentrale Frage in dem Prozess war, ob Koch mit seinem Fuß seinerzeit so die Eingangstür blockiert hatte, dass die Polizisten nicht eintreten konnten. Hintergründig ging es in dem Verfahren jedoch um weit mehr: Müssen Therapieräume nicht ähnlich wie Arztpraxen als besondere Schutzräume angesehen werden und sollen Polizisten nicht zu einer besonderen Sensibilität in derlei Institutionen angehalten werden? „Ich möchte verhindern, dass sich so ein Vorgang wiederholt“, kündigte Koch nach seinem Freispruch ein baldiges Gespräch mit der Polizeiführung und Innenverwaltung zu diesem heiklen Thema an.

Der Fall, der sich am 24. November 2000 im Xenion in Charlottenburg abgespielt hat, zeigt, wie wichtig es ist, für die Zukunft Vorsorge zu treffen. Der 17-jährige Kurde Davud K. war seinerzeit erst ein halbes Jahr in Berlin. Obwohl er in der Türkei wegen Mitgliedschaft in der PKK zu 15 Jahren Haft verurteilt und gefoltert worden war, war sein Asylantrag vom Verwaltungsgericht Magdeburg mit der Begründung abgelehnt worden, seine Unterlagen seien gefälscht. Zu dem Polizeieinsatz im Xenion war es gekommen, nachdem der Kurde beim Schwarzfahren erwischt, aber geflohen war. Auf dem U-Bahnhof hatte er jedoch sein Portemonnaie verloren, in dem sich der Zettel mit dem Termin bei Xenion befand.

Davud K. war erst kurz zuvor bei Xenion eingetroffen, als mehrere Polizisten bei Koch die Herausgabe des Kurden begehrten. Ihre Begründung: Gegen den Jugendliche läge ein Haftbeschluss wegen einer Ausweisungsverfügung der Ausländerbehörde vor. Später stellte sich raus: So ein Beschluss hat nicht existiert. Koch wollte einen Durchsuchungsbeschluss sehen. Daraufhin wurde ihm entgegengehalten, man könne die Praxis auch wegen Gefahr im Verzuge durchsuchen.

Ihm sei von Anfang an klar gewesen, so Koch gestern vor Gericht, dass der Anblick der Polizisten den jungen Kurden in größte psychische Nöte stürzen würde. „Ich wusste, dass er gefoltert worden ist. Er hat mir gegenüber deutlich gemacht, dass er sich lieber umbringen würde, als in die Türkei zurückzugehen.“ An der Tür entspann sich ein heftiger Wortwechsel, der plötzlich von einem dumpfen Schlag übertönt wurde. Davud K. hatte sich aus einem zum Innenhof führenden Fenster drei Stockwerke in die Tiefe gestürzt. Dank einer sofortigen Operation hat der Kurde keine bleibenden Schäden zurückbehalten. Eine Woche nach dem Fenstersturz wurde er dank einer Recherche des ARD-Nachrichtenmagazins Kontraste als politisch Verfolgter anerkannt. Kontraste hatte nachgewiesen, dass seine Unterlagen keineswegs gefälscht waren.

Ende gut, alles gut? Von wegen. In seinem Plädoyer listete Kochs Verteidiger Rüdiger Jung auf, dass es ohne die Schlamperei und einseitige Prüfung von Seiten des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und des Magdeburger Verwaltungsgerichtes nie zu dem tragischen Vorfall gekommen wäre. Und auch die Polizei hatte laut Jung kein Recht, sich ohne Wenn und Aber auf Gefahr im Verzuge zu berufen. Für die Zukunft, so der Anwalt, bitte er die Polizei doch um etwas mehr Augenmaß. „Immerhin handelte es sich hier um den sensiblen Bereich einer Therapieeinrichtung und nicht um eine Kneipe, in der die Zeche geprellt worden ist.“