: Verschwende deine Zeit
Hauptsache Beton und Gasmasken: Impressionen vom experimentellen Kurzfilm-Festival „Movie-Explosion“
Der Blick gleitet nach rechts über die abendlichen Lichter jenseits der Spree. Links steht die Mauer, diese bunt bemalte Betonschlange, die an der East Side Gallery immer noch den Westen vom Osten trennt. Unter einem aufgespannten Militärfallschirm sitzen junge Menschen, die Füße im Sand, den Blick auf die Leinwand, auf der zu lesen steht: „Vive la Piraterie“.
Das Kurzfilmprogramm hat noch nicht angefangen. Noch Zeit, sich grundsätzliche Gedanken zu machen. Ein paar Engländer führen eine leidenschaftliche Diskussion darüber, ob sie sich jetzt im Westen oder im Osten befinden. Muss doch Osten sein, schließlich war die Grenze doch … oder? „Anyway, it’s Friedrichshain, and that’s good“, sagt ein Dreadlockträger zum anderen. Es klingt wie Heimatstolz.
Die ersten Akkorde von „Zurück zum Beton“ erklingen, ein früher deutscher Punk-Song der Düsseldorfer Gruppe S.Y.P.H. Die Leser von „Verschwende deine Jugend“ kichern jetzt wissend. Ein junger Mann mit französischem Akzent spricht aus dem Dunkeln heraus. Das Motto des 6. Movie-Explosion-Festivals sei „zurück zum Beton“, sagt er, man habe nach der Insel der Jugend endlich einen wahrhaft urbanen Ort für das Festival gefunden. Einen Moment lang gucken alle die helle Betongerade an, die links den Blick absäbelt. Es ist ein einiges Schweigen, eine gemeinsame Huldigung an den Beton, der diese Stadt erst zur Stadt aller Städte gemacht hat.
Menschen fliegen in Lichtreflexe hinein. Sehr urban, aber zu wenig Beton, kaum Beifall. Zweiter Film. Ein Kran-Ballett vor Berliner Himmel. Etwas mehr Beifall. „Wieso haben wir eigentlich einen Zahnstocher gekriegt?“, fragt eine Frau ihren Freund. „Damit machen wir ein Loch in den Stimmzettel, das ist dann die Wertung“. – „Kommt aus Amerika, das System“, weiß der Nachbar. Ein französischer Film über eine verfluchte Wohnung, die Beziehungen scheitern lässt. Ein kühler Wind fährt durch die Ballonseide, Pärchen frösteln. Nicht so der muntere Moderator. „Das geht hier alles ganz weit nach vorne!“, schreit er. Ein paar vorsichtige Lacher. „Wie viele Filme stehen eigentlich auf dem Programm?“, fragt einer besorgt.
Ein überbelichtetes Auge. Eine riesige Iris, die ins Dunkle starrt. „I am eyes“. Rasend schnelle Schnitte. Bilder aus dem Fernsehen, Politiker, hungernde Kinder, eine Geburt, die Queen. Ein stoischer Sprecher fasst sein Leben mit dem Fernsehen zusammen. Liebe, Hass, Tod. Change the Channel. Nähe, Mitleid, Erregung. Erlösung. Switch off.
Solide Medienkritik, zufriedenes Klatschen. Nur die konservative Fraktion mosert: „Ich weine innerlich“, sagt ein Typ zu seiner Freundin. „Ich hab noch nie eine so dämliche Scheiße gesehen“, kontert sie. Eine Wasserschlacht zwischen Kreuzberg und Friedrichshain. Johlen aus der Friedrichshainer Fankurve. Der Sand unter den Füßen wird feucht, der erste Block ist zu Ende. Im Tätowierzelt macht „Harry, die Nadel“, einen Freundschaftspreis für alle, die sich eine Gasmaske tätowieren lassen. Die goldene Gasmaske, der erste Publikumspreis, wartet neben dem DJ. Der Sockel ist natürlich ein Stück Beton. NINA APIN