: Pakistan im Schatten der Taliban
Die zunehmenden Kämpfe zwischen einsickernden Taliban und US-Soldaten in Afghanistan zeigen, dass Pakistans Präsident Perves Muscharraf sein Land und vor allem das Grenzgebiet nicht unter Kontrolle hat. Die Islamisten werden immer stärker
aus Delhi BERNARD IMHASLY
Im Rahmen der Telefonate, die US-Präsident George Bush in den letzten Tagen führte, um seinen Freunden für ihren Beitrag im Kampf gegen den Terrorismus zu danken, sprach er auch mit Präsident Perves Muscharraf. Der hatte seinem Land, das die afghanischen Taliban einst mit aufgebaut hatte, nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 einen radikalen Richtungswechsel verschrieben. Als Belohnung dafür, die Taliban fallenzulassen und den USA Luftwaffenbasen und Überflugrechte zu geben, wurde Pakistan aus der Schuldenfalle befreit und erhielt massive Finanzhilfen. Im Verlauf der letzten beiden Jahre wurden in Pakistan in Zusammenarbeit mit dem FBI nahezu 500 Al-Qaida-Verdächtige dingfest gemacht.
Inzwischen sind die Zweifel gewachsen, ob Pakistans Regierung nicht ein Doppelspiel treibt: einerseits eine Antiterrorrhetorik, andererseits Toleranz gegenüber radikalen Islamisten. In der jüngsten Ausgabe des Monatsmagazins Herald wird detailliert nachgewiesen, dass die fünf in Pakistan verbotenen Terrorgruppen unter neuen Namen und Adressen wieder aktiv sind. Ihre Führer sind aus dem Hausarrest entlassen worden, einer von ihnen ist inzwischen ein Abgeordneter und Anhänger Muscharrafs. Andere treten regelmäßig als Freitagsprediger in Moscheen sogar der Hauptstadt auf. Die Beziehungen einiger Gruppen mit Teilen der Armee und des Geheimdienstes bleiben eng.
Unter Beobachtern wird dies nicht geleugnet, doch weisen sie darauf hin, dass für die Taliban nicht dasselbe gilt wie für al-Qaida. Die Taliban hatten sich nie in die interne Politik Pakistans eingemischt. Ihre Vertreibung aus Kabul im November 2001 und ihre Flucht nach Pakistan hat sie in den Augen ihrer Anhänger zu Opfern gemacht. Dies mag einer der Gründe sein, der die islamistische Parteienallianz MMA im letzten Herbst plötzlich zur zweitgrößten politischen Kraft Pakistans machte und in der North West Frontier Province sowie Belutschistan sogar an die Regierung brachte. Die traditionelle Autonomie der pakistanischen Stammesgebiete an der Grenze zu Afghanistan sowie tribale und islamistische Solidarität mögen auch geholfen haben, dass sich Ussama Bin Laden bisher jedem Zugriff auf ihn entziehen konnte, trotz der mehr als 50.000 ihn suchenden Truppen auf dem Boden und einem dichten US-Abhörnetz in der Luft.
Pakistanische Journalisten berichten, dass in den Kleinstädten der Tribal Areas und selbst in der Provinzhauptstadt Quetta wieder die weißen Taliban-Flaggen über Dächern flattern. Junge Männer zeigten sich wieder offen in schwarzen Kleidern, einem weiteren Markenzeichen der Taliban. Der beste Beweis für das Wiederauftreten der Islamschüler ist aber in Afghanistan zu beobachten. Ende August lancierten die USA die Operation „Mountain Viper“, als sich zeigte, dass Taliban-Verbände in einer Stärke von über 1.000 Mann eingesickert waren und sich in den Bergen zwischen den Provinzen Sabul und Urusgan zu formieren begannen.
Dem afghanischen Präsidenten Hamid Karsai gelingt es inzwischen nur noch mit Mühe, den Verdacht einer Kollusion zwischen Taliban und pakistanischen staatlichen Organen zu unterdrücken. Indien hat Pakistan schon immer vorgehalten, in Kaschmir ein Meister des Doppelspiels zu sein.
Die Fassade der Allmacht, die Präsident Muscharraf bisher aufrechterhielt, beginnt nun zu bröckeln: Er kann den US-Bündnispartner Afghanistan nicht vor Angriffen von Pakistan aus schützen. Es ist ihm nicht gelungen, die jüngste indische Friedensofferte einzukassieren. Und das offene Auftreten verbotener Organisationen im Inneren ist ein weiteres Schwächezeichen. Es deutet darauf hin, dass er die Generäle, das eigentliche Machtzentrum im Land, nicht mehr geschlossen hinter sich hat.
Die US-Beteuerungen, dass Präsident Muscharraf sein Bestes tut, sehen inzwischen mehr nach politischer Rückenstärkung als nach einem Tatsachenbefund aus. Für Muscharraf indes wird das Verhältnis zu den USA zu einer immer größeren Belastung. Diese haben mit der Invasion in den Irak die Legitimität, die sie im Afghanistankrieg noch einigermaßen bewahren konnten, in der Volksmeinung vollständig verloren.